Er hatte vergessen die Türe zuzusperren

Interview mit dem Schneewittchen-Mörder

© Petra Öllinger

Erschienen in der Literaturzeitschrift „Podium“, Wien 2002.

Ich sitze ihm gegenüber und unweigerlich drängt sich mir der Gedanke auf: Der sieht gar nicht aus wie ein Mörder. Unterliege auch ich dem Vorurteil, daß man das jemanden ansieht. Er hat einen kräftigen Händedruck, lächelt freundlich. Der Ober bringt uns zwei Melange, für ihn eine koffeinfreie. Sein Herz mache ihm zur Zeit Probleme, erzählt er. Kein Wunder nach all der Aufregung, seit zwei Wochen ist er auf freiem Fuß. Fünf Jahre war er im Gefängnis: Mord im Affekt. Als ich ihn um den Interviewtermin gebeten habe, war er sehr erfreut. Endlich kann ich der Öffentlichkeit berichten, was sich wirklich zugetragen hat.

P.Ö.: Herr Zwerg fünf, Sie sind wieder ein freies Wesen. Wie reagierte Ihre Umwelt auf Ihre Entlassung?

Zwerg fünf: Zu Hause wurde ich sehr herzlich empfangen. Meine Mitbewohner waren von Anfang an von meiner Unschuld überzeugt. Sie waren erbost über die Geschehnisse. Schließlich wurde in den Medien sehr einseitig berichtet. Ich wurde als Verkörperung des Bösen dargestellt. Eine Tageszeitung titelte mit der Schlagzeile Monster hinter den sieben Bergen wurde endlich das Handwerk gelegt. Da fragte ich mich, was bedeutet hier ENDLICH? Ich hatte mir nie zuvor etwas zu Schulden kommen lassen. Jetzt konnte ich am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet in die Mühlen der Justiz zu geraten.

P.Ö.: Besonders interessant ist die Vorgeschichte. Sie erwähnten im Prozeß immer wieder, daß Schneewittchen Sie und Ihre Mitbewohner seelisch quälte.

Zwerg fünf: Ja, das stimmt. Meine Güte, wie oft haben wir versucht ihr zu erklären, daß wir nicht noch mehr im Haushalt tun können. Sehen Sie, trotz gewerkschaftlicher Regelung, arbeiten wir noch immer zehn Stunden im Bergwerk. Wir kommen meist fix und fertig am Abend nach Hause und müssen noch kochen und aufräumen.

P.Ö.: Aber als Schneewittchen noch nicht bei Ihnen wohnte, mußten Sie doch ebenfalls den Haushalt machen?

Zwerg fünf: Natürlich. Wir haben einen festen Putzplan, wer wann dran ist. Wissen Sie, wenn man den ganzen Tag nicht daheim ist, fällt nicht soviel Hausarbeit an. Das war nie ein Problem. Jedoch seit Schneewittchen da war, kommandierte sie uns herum. Zu Beginn war es noch nicht so schlimm. Wir dachten, na ja ein schlechtes, herzloses Elternhaus, da kann man es schon verstehen, wenn sie verstört ist. Wir beratschlagten, was wir tun könnten, damit sie sich wohl fühlt. Wir brachten ihr die schönsten Kristalle von der Arbeit mit, saftige, süße Waldbeeren und einmal fanden wir ein verlassenes Rehkitz. Wir hofften, sie kommt auf andere Gedanken, wenn sie eine Aufgabe hat. Vergeblich. Schlußendlich mußten wir uns um das Reh kümmern.

P.Ö.: Es stimmt also, daß die Stiefmutter versucht hatte, sie zu töten?

Zwerg fünf.: Töten? Das erzählte uns Schneewittchen. Eines Tages trafen wir den Jäger, der sie in den Wald geführt hatte. Wissen Sie, was der uns berichtete? Man hatte sie rausgeworfen. Allen im Schloß fiel sie auf die Nerven mit ihrer überheblichen Eitelkeit. Zuletzt hatte sogar der König zugestimmt, der kleinen Rotznase ordentliche Manieren beizubringen. Fragen Sie mich nicht, warum er sie ausgerechnet auf die Waldbewohner losgelassen hatte. Egal, wir hatten sie am Hals.

P.Ö.: Was tat Schneewittchen den ganzen Tag?

Zwerg fünf: Das fragten wir uns nach einiger Zeit ebenfalls. Wie schon gesagt, eine Weile konnten wir ihr rüpelhaftes Benehmen akzeptieren. Sogar nachdem wir die Geschichte vom Jäger gehört hatten, waren wir davon überzeugt, daß sie sich bald einleben würde. Nach und nach fing sie an uns Vorwürfe zu machen, weil wir sie in ihrem alten Kleid herumlaufen ließen. Ich trage diesen Fetzen schon drei Wochen! schrie sie Zwerg drei eines Tages an. Besorgt mir etwas Neues zum Anziehen! Ich gebe zu, sie sah tatsächlich ein bißchen schmuddelig aus. Falls sie wirklich eine Prinzessin war, na, dann war die Kleidung nicht mehr standesgemäß. Uns störte dieser Umstand nicht. Schneewittchen war auch in diesem Aufzug sehr hübsch. Sie hatte dieses schwarze lange Haar und die helle, fast durchsichtige, samtige Haut. Und ihre Lippen; blutrot. Wir wußten nicht, was sie den ganzen Tag tat. Wenn wir sie danach fragten, gab sie schnippisch zur Antwort, daß uns Wald-Ausgaben von Gartenzwergen das gar nichts angehe. Für unsere Arbeit interessierte sich nicht. Sie hielt sich grundsätzlich nicht an den Putzplan. Wenn sie dran war, jammerte sie entweder über Kopfschmerzen. Oder sie beklagte sich, daß Hausarbeit einer Prinzessin unwürdig sei.

P.Ö.: Können Sie uns das genauer erklären?

Zwerg fünf: Nach ungefähr drei Wochen stellte sich heraus, daß Schneewittchen ganz und gar nicht nett und liebenswürdig war. Sie hatte nicht viel Grips, keine Interessen, ausgenommen Gesichtsmasken, Anti-Falten-Créme und so weiter. Den Entschluß ihres Vaters sie loszuwerden, konnten wir jetzt gut verstehen. Am Morgen blockierte sie oft stundenlang das Badezimmer. Sie stand vor dem Spiegel, bürstete ihr Haar, drückte Pickel und Mitesser aus.

P.Ö.: Woher wissen Sie das so genau?

Zwerg fünf: Wir lugten ein paar Mal durch das Schlüsselloch. Für uns war es einfach unverständlich, daß jemand dermaßen viel Zeit im Bad verbrachte.

P.Ö.: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Sie sprechen von Haare BÜRSTEN, aber kommt da nicht ein Kamm vor?

Zwerg fünf: Kamm? Ach so, die Geschichte mit der Stiefmutter. Das verhielt sich ganz anders. Vergessen Sie die Gebrüder Grimm. Was in den Märchenbüchern steht, ist lediglich Fantasy. Von mir erfahren sie die authentische Story. Unser Morgendiskurs bestand zumeist aus Streitereien mit Schneewittchen. Wir sagten ihr, daß wir es in der Früh eilig hätten und sieben Zwerge sich waschen müßten. Doch das war ihr vollkommen gleichgültig. Hauptsache, sie konnte ihrer Körperpflege nachgehen. Abends wiederholte sich die Situation. Sie nahm täglich ein Vollbad. Oil of Olaz, der Lieblingsschaum von Zwerg zwei, und das ohne zu fragen. Schneewittchen nervte.

P.Ö.: Und die Angelegenheit mit dem Kamm?

Zwerg fünf: Als wir eines Abends nach Hause kamen, fanden wir Schneewittchen am Boden liegen. Wir waren zu Tode erschrocken. Erstens fürchteten wir ein Unglück und zweitens waren Schneewittchens Haare naß und blond. Zwerg sechs gelang es, sie wiederzubeleben. Als wir sie fragten was passiert war, erzählte sie uns folgende Geschichte. Eine Frau kam vorbei und gab sich als Hair-Stylistin der Firma L’Oreal aus. Sie schenkte mir eine Probepackung von ‚Glanz und Pflege‘ und verschwand mit den Worten ‚Weil Sie es sich wert sind.‘ Ich wusch mir die Haare. Als ich in den Spiegel schaute, entdeckte ich die Katastrophe, da bin ich wohl in Ohnmacht gefallen. Sie fing an zu plärren, rannte ins Badezimmer und schloß sich ein.

P.Ö.: Inwiefern wurde Ihre Wohngemeinschaft durch Schneewittchen beeinflußt?

Zwerg fünf: Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Nach und nach begannen wir Zwerge uns gegenseitig anzublaffen. Wir beschuldigten Zwerg eins, weil er an dem Tag als Schneewittchen auftauchte, die Türe nicht abgeschlossen hatte. Die wäre sonst nie hereingekommen. Zwerg zwei bekam einen hysterischen Anfall, als er feststellte, daß sein Badeschaum leer war. Zwerg sieben machte plötzlich Überstunden, weil er es nicht mehr aushielt daheim. Kurz gesagt, unsere sonst sehr harmonische Beziehung zueinander begann zu bröseln. Schneewittchen outete sich mehr und mehr als affektierte Schnepfe und fast bedauerten wir es, daß der Plan der Stiefmutter erfolglos war. Denn darin waren wir uns einig: Die Hair-Stylistin konnte nur sie gewesen sein. Die wußte genau, daß Schneewittchen mit den blonden Haaren entsetzlich aussehen würde. Tod durch Schock.

P.Ö.: Es steckte Mordabsicht dahinter?

Zwerg fünf: Während des Prozesses gestand die Stiefmutter bei der Zeugeneinvernahme, daß sie versucht hätte, Schneewittchen zu killen. Manchmal dachte auch der eine oder andere von uns daran, sie ins Jenseits zu befördern. Das Leben mit ihr war unerträglich geworden. Als sich die Sache mit dem viel zu engen BH zutrug, waren wir doch nervlich am Ende. An diesem Tag kam Zwerg sechs glücklicherweise früher als geplant nach Hause. Er fand sie leblos am Boden liegend. Auch diesmal gelang es ihm, sie wiederzubeleben.

P.Ö.: Können Sie uns genauer erklären, was es mit dem engen BH auf sich hatte?

Zwerg fünf: Schneewittchen jammerte uns die Ohren voll, daß sie einen zu großen Busen hätte. Ich brauche einen Minimizer! herrschte sie uns an. Zwerg sieben fragte, was das sei. Statt einer vernünftigen Antwort, bekamen wir nur böse Bemerkungen zu hören wie Ihr Hinterwäldler. Ihr mit euren sieben Bergen! Ihr seid zu gar nichts zu gebrauchen.

P.Ö.: Könnten Sie uns kurz sagen was ein Minimizer ist?

Zwerg fünf: Ein BH, der den Busen optisch verkleinert. Wir kamen darauf, als wir in einem von Schneewittchens Versandhaus-Katalogen blätterten.

P.Ö.: Wie ging die Geschichteweiter?

Zwerg fünf: Laut Schneewittchen trat diesmal die Stiefmutter als Vertreterin von Palmers auf. Sie wußte um das Problem mit Schneewittchens Busen. So bot sie ihr ein besonderes Modell an. Es läßt einen flach werden wie ein Bügelbrett; und es drückt einem die Luft ab.

P.Ö.: Warnten Sie Schneewittchen nicht davor, die Türe jemandem Unbekannten aufzumachen?

Zwerg fünf: Wir redeten ihr zu wie einer kranken Kuh!

P.Ö.: Es schien allerdings nichts zu nützen, laut Märchenbuch kommt die Stiefmutter noch ein drittes Mal.

Zwerg fünf: Ja, das ist richtig. Bevor sie ein letztes Mal in Aktion trat, hatten wir uns einen Plan überlegt. Wir wollten Schneewittchen verkuppeln. Wir inserierten im Waldschratt mit den Worten Langhaariges Vollblutweib such männliches Pendant. und gaben unsere Adresse an. Mit Chiffrenummer und dem ganzen Hin und Her, das wäre viel zu kompliziert gewesen, Außerdem mußten wir sie so schnell als möglich loswerden.

P.Ö.: Schneewittchen wußte nichts davon?

Zwerg fünf: Nein. Wir wollten uns auf keine Diskussionen einlassen. Der erste, der kommen würde, sollte sie haben. Eigenartiger weise meldete sich niemand. Nur die Stiefmutter tauchte auf.

P.Ö.: Mit einem Apfel, nehme ich an?

Zwerg fünf: Nein, frisches Obst kam nicht vor. Schneewittchen hatte absurde Ideen was gesunde Ernährung betrifft. Mit einem Apfel, der so schön glänzte, wie das die beiden Grimms beschreiben, hätte sie sicher nichts am Hut gehabt. Sie wissen ja, Genmanipulation. Was sich wirklich zugetragen hatte, erfuhren wir erst bei der Einvernahme der Stiefmutter bei der Gerichtsverhandlung.
Sie tanzte mit einer Großpackung Gittis Müsli in unserem Haus an. Damit wollte sie Schneewittchen vergiften. Als Schneewittchen röchelnd am Boden lag, konnte die Stiefmutter nicht wissen, daß eine Haferflocke im Hals steckengeblieben war. Dieses Mal halfen keine Rettungsversuche von Zwerg sechs. Schneewittchen war tot. Noch am selben Abend klopfte es an der Türe. Ein Typ mit Pagenkopf und bunten Strumpfhosen stand draußen. Guten Tag, ich bin der Prinz. Bin ich hier richtig wegen der Anzeige? Er hielt uns das Inserat, das er rot eingeringelt hatte, vor die Nase. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Sie wissen ja, die Geschäfte. Ich mußte unterwegs noch einen Drachen erledigen. Da stand der einzige Bewerber, noch dazu ein Prinz, und Schneewittchen war hinüber. Doch, Sie sind zu spät, jammerten wir und erzählten ihm, was sich zugetragen hatte. Der Prinz ließ sich davon nicht abhalten, er wollte sie sehen. Als wir sie ihm zeigten, war er entzückt. Er packte sie aufs Pferd und nahm sie mit. Wer weiß, vielleicht war er ja nekrophil. Wie schon gesagt, die Gebrüder Grimm haben die Story total verfälscht. Damals, als der Prinz sie auf das Schloß brachte, wurde Schneewittchen derartig durchgeschüttelt, daß sie die Haferflocke aushustete und wieder zum Leben erweckt wurde. Wie war da der Prinz erfreut. Jedoch nicht sehr lange. Daß dieser adelige Knabe nach einem Monat zurückkam mit Schneewittchen und meinte, er halte es mit ihr nicht aus, das haben die ebenfalls nicht geschrieben. Tut mir leid, aber mit der da ist nichts anzufangen. Sitzt nur bei der Pediküre, Maniküre, beim Friseur, bei der Kosmetikerin, hüpft im Fitneßcenter herum. Danke, da habt ihr sie wieder zurück. Sprach’s, warf ihr das Beautycase vor die Füße und gab seinem Pferd die Sporen. Uns traf beinahe der Schlag. In der Zwischenzeit hatte sich unser Leben wieder normalisiert und nun kam diese Schreckschraube wieder zurück!

P.Ö.: Wie gestaltete sich das weitere Zusammenleben mit Schneewittchen?

Zwerg fünf: Katastrophal! Es wurde immer schlimmer. Außerdem war sie auf den Prinzen sauer und ließ ihren Ärger an uns aus. Mittlerweile befand sie sich auf dem Schlankheitstrip! 800 Kalorien täglich, auch für uns! Körperliches Fitneßtraining, auch für uns! Sie wollte mit uns joggen!!!! Als ob wir nicht genug körperliche Ertüchtigung hätten in unserem Job. Es reichte uns und ich sagte ihr, sie solle sich ihren Wellness-Wahn in ihre blonden Haare schmieren. Völlig ungerührt meinte sie: Ihr seid zu dick. Seht euch doch nur an. Klein und untersetzt. Das ist schlecht für die Gelenke.

Das Theater fing von vorne an. Eines Morgens wiederholte sich die Badezimmerszene zum xten-Mal. Wissen Sie, auch einem Zwerg reißt einmal die Geduld. Ich klopfte an und rief: Mach endlich auf! Wir sind auch noch da. Und wissen Sie, wie sie reagierte? Na, mein Dicker, nun beruhige dich mal. Für euer Bergwerk seid ihr schön genug. bemerkte sie zynisch.
Dann war es vorbei, ich sah rot. Ich trat die Tür ein, schnappte mir dieses längliche silberne Ding, das auf dem Waschbecken-Rand lag. Miß Schneewittchen es hat sich ausgewellneßt! Fastenkuren für uns Schwerstarbeiter? Joggen um sechs Uhr morgens, weil wir ja eh nix zu tun haben, was? lachte ich höhnisch und stach mit der Nagel-Polier-Diamant-Feile zu. Immer und immer wieder. Ich war im Blutrausch und nur Zwerg drei und sieben konnten mich davon abhalten noch weiter auf sie einzustechen. Ich mag nicht mehr daran zurückdenken.

P.Ö.: Und Sie haben sich bei der Polizei selbst gestellt?

Zwerg fünf: Ja, meine Mitbewohner überzeugten mich davon, daß es das beste für mich wäre. Sie glaubten, daß ich straffrei ausgehen würde.

P.Ö.: Zum Abschluß noch eine letzte Frage: Haben Sie Ihre Tat jemals bereut?

Zwerg fünf: Natürlich, das können Sie mir glauben. Fünf Jahre Gefängnis sind zwar jetzt vorbei, doch mein schlechtes Gewissen wird mich mein ganzes Leben verfolgen. Jedoch, daß ich die Gebrüder Grimm als Scharlatane und Historienverdreher entlarven konnte, das freut mich und gibt meinem Leben ein wenig Sinn.

P.Ö.: Danke für das Gespräch.