Brigitte Schwaiger – Fallen lassen

Aus der Norm kippen

© Petra Öllinger
erschienen in an.schläge – das feministische Magazin, Mai 2007

Es soll Mitmenschen geben, die meinen, der Empfang der Sozialhilfe und/oder die Einweisung in die „Klapsmühle“ müsse eine/n doch ein für alle mal von existenziellen Sorgen befreien. Welche/r sich in Brigitte Schwaigers Band „Fallen lassen“ fallen lässt, wird allerdings ganz schnell von diesem Rettungsankerwunschtraum erlöst. Von Petra Öllinger

Sich also in die Rettung eines irrsinnigen SozialschmarotzerInnentum fallen lassen.
„Das unfreiwillige Aufeinandertreffen mit Menschen, die gleich mit einem per Du sind. Verschiedener Erziehung, aus allen Schichten, Berufen, Nationen.“ StimmenhörerInnen, Debile und Demente, Zwangskranke, Depressive, alle auf engem Raum, „Patienten, die pausenlos reden und andere stören …“. Die psychiatrische Anstalt – keine Insel der Seligen, auf die es aus der Normalität zu flüchten ratsam wäre. Und das Sozialamt? „Ich kostete zu viel.“

„Ich verlerne das Reden, meine Sprache geht mir verloren in den Tagen unaufhaltsamen Strickens.“ Jedoch sind sie noch da, Brigitte Schwaigers Fähigkeiten zu reden und vor allem jene zu schreiben. Davon konnte sich die LeserInnenschaft nach vielen Jahren von Schwaigers literarischer Absenz überzeugen. 2006 erschienen in der „Presse“ Beilage „Spectrum“ ihre Berichte über den Zustand vor dem Kippen in eine, in Brigitte Schwaigers Depression. Einmal betitelte sie ihren Text mit „Schöner wohnen“ und lies eine beissend-sarkastische Abhandlung über seelische Notstände vermuten. Über seelische Notstände anderer – Verrückten eben – die in irgendwelchen, nicht nachvollziehbaren Welten hausen. Aber schon die ersten Sätze machten deutlich: vermeintlich psychische Ausnahmezustände sind, ja müssen, durchaus alltagstauglich sein und sie hausen in Menschen wie „du und ich“. „Das Heimgehen vom Einkaufen ist mit der Gefahr verbunden, in eine Depression zu kippen. Ich trage die Einkaufssäcke, Menschen mit Einkaufstaschen werden immer seltener, ich gehe über die Kreuzung Zieglergasse-Westbahnstraße, an der seit einiger Zeit eine Fußgeherampel ist.“

Die Autorin geht nicht nur über diese Kreuzung, sie geht weiter; mit einem 115-seitigen Text. Kein Roman, keine Erzählung, kein Bericht, keine Aufzeichnung – keine literarische Definition findet sich im Czernin Verlag erschienen Buch. Es ist Peter Henisch zuzustimmen, wenn er in seiner Rezension vom 25.11.06 in der „Presse“ schreibt: „‚Fallen lassen‘ ist ein Buch, das sich nicht mit literarischen Maßstäben messen läßt. Hier schreibt eine Autorin, die sich alle Literatur abgeschminkt hat. Nein, abgeschminkt ist nicht das richtige Wort. Es ist schwer, für dieses Buch die richtigen Worte zu finden.“ Die Schriftstellerin ergeht sich nicht in Erklärungsversuchen für ihre „Zustände“, die, je nachdem welche ärztliche Beurteilungskriterien verwendet werden von endogener Depression über Boderline bis zu Schizophrenie reichen. Brigitte Schwaiger ergeht sich nicht in Antworten auf die Fragen nach dem Grund ihres Andersseins. Nur hin und wieder streut sie Andeutungen.

„Ein Kritiker schrieb mir, ich solle über diese Dinge nicht schreiben. Die Leser würden Selbstmord begehen, weil ich darüber schreibe. Wenn man einen Selbstmordversuch gemacht habe, soll man es niemanden sagen.“ Oh doch! Vielleicht trifft sprachlicher Reigen für „Fallen lassen“ zu. Ein ganz-nah-an-die-LeserInnen-Heranführen ans Rausfallen aus der „Normalität“, an Mitgefühl (nicht an Mitleid!), ans Aushebeln der menschlichen und fachlichen Kompetenz von ÄrztInnen, an einen dem Irrsinn trotzenden Humor, der sich oft in lapidaren Bemerkungen niederschlägt wie: „Das Essen war gut, das Mineralwasser war gut, wurde aber wegen Budgetkürzung Ende 2003 gestrichen“. Gestrichen scheint Brigitte Schwaiger auch aus dem Literaturbetrieb worden zu sein. Kaum eine/r, auf deren/dessen Leseliste für die Deutschmatura nicht ihre Romane „Wie kommt das Salz ins Meer“ oder „Mein spanisches Dorf“ aufwiesen. Und danach? Nicht mehr fähig zum Romanschreiben „plus andere Behinderungen“ gemischt mit literaturwirtschaftlichem Aufgefressen- und Weggeworfenwerden. Und trotzdem – auch hier ist Peter Henisch zuzustimmen – „Hier wird ahnbar, was möglich gewesen wäre, und was diese Schriftstellerin trotz allem noch könnte.“

Brigitte Schwaiger: Fallen lassen.
Czernin Verlag Wien, 2006. 220 Seiten, € 19,80