© Petra Öllinger
Erschienen in „an.schläge – das feministische Magazin“, September 2002.
Die Zirkusfamilie, die zusammenhält wie Pech und Schwefel, NomadInnenleben, bunte Planwagen – Klischees oder Wirklichkeit? Der Zirkus als ein rundes Paradies in einer harten und wahnsinnigen Welt. Petra Öllinger traf die Artistin Barbara Gräf
Wie gestaltet sich der Alltag in diesem runden Paradies, als das die berühmte Zirkusfrau Annie Fratellini das Leben für die Manege bezeichnete? Ein Termin bei einer Zirkusakrobatin. Unweigerlich sucht der Blick nach einem Hochrad, einem gespannten Drahtseil oder zumindest einem Trapez. Nichts davon ist zu finden. Barbara Gräf trainiert, wenn sie kein Engagement hat, zu Hause. Dafür reichen wenige Quadratmeter. Ihre Nummer besteht aus einer Mischung von Boden- und Gleichgewichtsakrobatik, die sie mit einer Jongliertechnik, dem sogenannten Ballkontakt, verbindet. Der Ball rollt immer auf dem schlangenfrauartig verbogenen Körper entlang. Wie lange muss sie dafür trainieren? Man sollte ständig im Training sein. Du kannst dir mehr als eine Woche Pause kaum leisten. Wenn du zwei Wochen Pause machst, brauchst du wieder eine Woche, um das Niveau zu erreichen, das du vorher hattest. Schwierig ist es, hin und wieder, in Bezug auf Übungsmöglichkeiten im Zirkus. Viele Zirkusbetriebe haben wenig Geld, und dann müsste man extra das Zelt heizen, damit ich trainieren kann. Das machen sie meistens nicht. Das ist ein Problem, weil für meine Technik und meine Kreuzarbeit brauche ich es wirklich sehr warm.
Akrobatin reich? Kollektivverträge oder ähnliches gibt es nicht. Die Höhe der Bezahlung hängt vom Zirkus ab und erfolgt entweder pro Tag, pro Monat oder pro Auftritt. Das ist manchmal sehr, sehr wenig. Gräf nennt als Beispiel einen Zirkus in Paris, wo sie für drei Stunden Arbeit etwa 15 Euro erhielt. Arbeit und Stress im Zirkus stehen in keinem Verhältnis zur Bezahlung. Allerdings: Die ArtistInnen sind angemeldet und sozialversichert. Kosten müssen sie in manchen Fällen nur für Strom oder Wasser begleichen. Man muss nicht extra für den Platz zahlen. Manche verlangen was für die Heizung, oder für den Wagen, wenn du keinen eigenen hast oder für das Zugfahrzeug. Menschen unterschiedlichster Herkunft, mit verschiedensten Tätigkeiten – und unterschiedlichstem Lohn? Das sei nicht eindeutig zu beantworten, meint Gräf. Bei einem Schweizer Zirkus erhielten alle, vom Bühnenarbeiter bis zum Artisten, dasselbe bezahlt. Sie erzählt aber auch von Fällen, wo Leute aus dem Osten zu einem sehr geringen Entgelt arbeiten müßten. Auf die Frage, wie es aussehe mit einem Lohngefälle zwischen den Geschlechtern, antwortet sie mit einem galgenhumorigen die Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Artisten sind meist sehr schlecht. Da gibt’s keine Unterschiede mehr zwischen weiblichen und männlichen Artisten. Das Gefühl, arm zu sein, verspürt sie nicht. Mir bleibt sowieso nie Zeit, das Geld auszugeben.
In die Manege. In Österreich gibt es noch keine professionelle Ausbildung. Eine lange Tradition haben Zirkusschulen in Frankreich, wo sich über 200 befinden – und es gehen viele Leute in Zirkusschulen, so wie sie bei uns ins Fitnesscenter gehen. Viele Ausbildungsstätten befinden sich auch in Belgien oder in Russland. Barbara Gräf war eine Spätberufene, hat die ehemalige Volksschullehrerin doch erst mit 29 Jahren ihre dreijährige Ausbildung in Brüssel begonnen. Das durchschnittliche Aufnahmealter liegt im Moment bei zirka 25 Jahren. Die Zeit bis zur Manegenreife ist unterschiedlich lang und hängt von den eigenen Voraussetzungen, von der Technik ab. Beim Jonglieren, so die Artistin, erreichen die Leute zum Beispiel in Russland, wo das technische Niveau sehr hoch ist, bereits nach einem Jahr Auftrittsreife. Die Gleichgewichtsakrobatik dauert hingegen sieben Jahre. Die meisten Schulen bieten eine mehrmonatige Grundausbildung, die Kraft und Beweglichkeit, Schauspiel, Tanz und Akrobatik umfasst. Danach muss man sich für eine Technik entscheiden.
Und jene, die ausgedient haben? Manche, die keine Akrobatik machen und körperlich fit sind, arbeiten sehr lange. Andere wechseln ihr Fach oder werden Clown. Manche gründen einen Zirkus. Schwierig ist es, einen Pensionsanspruch zu erhalten, vor allem, wenn die Leute viel in verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Regelungen, arbeiten.
NomadInnenleben. Häufiges Zelte-Abbrechen gehört zum Alltag. Ob und wie häufig der Standort gewechselt wird, ist von Zirkus zu Zirkus verschieden. In Paris arbeitete ich das ganze Jahr an einem Ort. In der Schweiz waren das längste zwei Wochen, dann haben wir schon nach zwei Tagen gewechselt. Barbara Gräf kommt ins Schwärmen, wenn sie erzählt, wie sich ein Parkplatz oder eine Weidewiese innerhalb von Stunden in eine Zirkusstadt verwandelt. Zwar gestaltet sich dieses häufige Umsiedeln sehr anstrengend, weil du meistens nach der Vorstellung gleich abbauen musst, und du kannst dich nicht um deinen Körper kümmern. Hast kaum Zeit zum Essen, kaum Zeit, den Körper wieder auskühlen zu lassen. Also nichts mit fröhlichem Zirkusleben? Doch, denn das ist auch wieder sehr romantisch. Das ist halt das, was man sich unter Zirkusleben vorstellt – Plätze ändern. Und sie erzählt von Alltagshandlungen, wie etwa Zähne putzen, das mitten auf der Straße stattfindet.
Arbeitsteilung. Barbara Gräf ist eine sehr zierliche Frau, wirkt fast zerbrechlich. Trotzdem ist das Vorurteil, Frauen seien körperlich schwächer als Männer und könnten deshalb bestimmte Arbeiten nicht verrichten, beim Zirkus kein Thema. Es geht einfach um eine gute Arbeitskraft, um eine gute Nummer. Beim Zeltaufstellen mache jedeR alles, da schleppen alle alles. Frauen, die akrobatisch arbeiten, seien im Übrigen oft stärker als ein Durchschnittsmann. Aber es kann schon mal passieren, dass die Frau zuerst gefragt wird, ob sie nicht die Drecksarbeit machen will, bevor man zu den Herren geht. Wer was zu tun hat, wird vor der Saison besprochen und ist meistens Verhandlungssache. Bei einem Zirkus musste ich schauen, dass ich den Vorhang repariert habe. Oder sie musste die Drehbühne abbauen. Da sie Volksschullehrerin ist, unterrichtete sie auch schon mal das Kind des Direktors.
Familienleben. Die klassische Zirkusfamilie gibt es teilweise noch, beispielsweise im österreichischen Zirkus Picard. Er besteht aus einem Ehepaar mit drei Kindern, wo alle auftreten, und dann haben sie noch zusätzlich Artisten. So wie es früher auch war. Häufig komme es vor, dass jene, die den Zirkus gegründet haben, auch selbst spielen, was sehr schwierig sei. Denn auf der Bühne sind sie Kollegen, dann sind sie wieder deine Vorgesetzten. Dort, wo es keine natürliche Zirkusfamilie gibt, werden von den ArtistInnen selbst Familienbande geknüpft. Was Barbara Gräf manchmal lästig fällt, denn es sind viele, die wollen, dass man viel miteinander tut. Sie hingegen ist gerne für sich alleine und erntet oft Kritik deswegen. Kurioserweise erhielt sie auch schon den Ratschlag, als Frau nie einen Mann in ihren Wagen zu lassen. Der Zirkus ist wie ein kleines Dorf. Da wird ja sofort gesprochen, da weißt du gleich, der war jetzt zwei Stunden bei der im Wagen, da wird dann viel getuschelt.
Trotzdem schätzt sie den Zusammenhalt zwischen den KollegInnen. Die Kollegen untereinander halten total zusammen, es gibt kaum diese Konkurrenz. Also die Kollegen, die Artisten untereinander, sind meistens ein Bündel, die verschwören sich gerne gegen den Direktor, wenn mal was nicht passt. Für sie passt das ArtistInnenleben. Und der Zirkuswagen wartet bereits für die Fahrt ins nächste runde Paradies.