© Petra Öllinger
Erschienen in der Anthologie „Female Science Faction“, Promedia-Verlag, Wien 2001.
In Ihrem Briefkasten befindet sich Eilpost; der weiße Zettel, der auf ihrem Briefkasten klebte, schrie ihr diese Benachrichtigung entgegen. Hypatia war verwundert. Eilpost? War es denn schon wieder soweit? Eine altmodische Weise, Nachrichten durch den Briefträger überbringen zu lassen, aber eine, die immer noch sicherer war, als sich des neuen DSX Anschlusses zu bedienen. Im Bruchteil einer Sekunde konnten damit zwar zehnbändige Lexika von einem Rechner zum anderen übertragen werden. Mit derselben Geschwindigkeit wurden aber auch Paßwörter und Kennzeichnungen geknackt, die Identität von Sender und Empfänger ermittelt. Hypatia kannte diese Vorgehensweise aus ihrem Job. Sie war in einem Unternehmen tätig, das für die Sicherheit zuständig war, wenn es um Vertragsabschlüsse im Netz ging. Sie kontrollierte Transaktionen zwischen Banken, Versicherungen und deren Kunden. Virtuelle Unterschriften wurden auf ihre Richtigkeit überprüft. Codes, bestehend aus bis zu 200 Ziffern, waren für diverse Abwicklungen notwendig. Wurde zum Beispiel ein Vertrag zwischen einer Versicherung und einem Kunden geschlossen, schickte die betreffende Firma das Formular an Hypatias Stelle. Hier wurde der Text entziffert, neu verschlüsselt und an den Kunden weitergeschickt. Offiziell hieß es, daß man durch diese Vorgehensweise absolute Geheimhaltung bewahren wollte, um die Leute vor illegalen Zugriffen zu schützen. Hypatia aber wußte, es ging darum, Informationen über Klienten zu gewinnen. Damit die Abläufe nicht entdeckt wurden, waren diese Zwischenschritte notwendig. Obwohl viele ahnten, was sich abspielte, konnten sie nie Beweise anführen. Hypatia lebte gefährlich, denn bei ihr liefen die Fäden zusammen. Ihr Arbeitsplatz glich einem Hochsicherheitstrakt. Um in das Gebäude eingelassen zu werden, mußte sie sich täglich der Netzhautanalyse unterziehen. Die Sicherheitselektronik tastete dabei die Struktur des Augenhintergrundes ab. Der Vorteil dieser Überprüfung lag darin, daß Hypatia zumindest mit dem Leben davonkam, sollte sich jemand gewaltsam Zutritt zum System verschaffen wollen. Die Erkennung funktionierte nur am lebenden Gewebe. Noch funktionierte es nur am lebenden Organismus. Es lediglich war eine Frage der Zeit, bis jemand auch diesen Vorgang knackte.
Manchmal wurde sie für einen Spezialauftrag engagiert, wenn es darum ging, einen Paßwort zu decodieren, weil Firmen prüfen wollten, wie sicher die Übertragungen waren. Mit Hilfe neuer Berechnungstechniken war dies nur mehr ein Kinderspiel, schon längst waren Computer im Einsatz, die auf quantentheoretischer Basis funktionierten. Ab und zu jedoch kam es zu eigenartigen Unregelmäßigkeiten in den Ziffernabfolgen, die eine hohe Fehlerquote beim Datenaustausch bewirkten. Dann wurde Hypatia zu Rate gezogen, da sie ein unglaubliches Wissen auf dem Gebiet der Primärfaktorenzerlegung im Kopf hatte. Es gelang ihr immer wieder ohne technische Hilfsmittel, die richtige Abfolge zu entschlüsseln und problemlos die Identität des Benutzers ausfindig zu machen. Seine Lebensgewohnheiten. Seine Vorlieben. Seinen Tagesablauf. Sein Gesundheitsverhalten. Sie kannte folglich auch die Gefahren, die eine Entdeckung im Netz mit sich brachte. Aus diesem Grund hatte sie den Vorschlag mit den Briefen gemacht. Bei dieser unspektakulären und langsamen Übermittlung würde kaum jemand auf die Idee kommen, daß wichtige Botschaften verschickt wurden. Alles mußte schnell gehen, effizient sein, fehlerfrei. Der Austausch mittels Briefen auf dem herkömmlichen postalischen Weg hingegen war alles andere als flink und rasch, im Gegenteil, oft dauerte es zwei Tage bis ein Schreiben an der richtigen Stelle landete. Der Zeitpunkt des Absendens mußte deswegen immer richtig gewählt werden.
Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, öffnete sie das Türchen des Postkastens. Wenn es Eilpost war, dann mußte etwas Besonderes passiert sein. Hypatia öffnete hastig den Umschlag, wollte nicht warten, bis sie in ihrer Wohnung angekommen war und mit einem Messer das Kuvert feinsäuberlich aufgeschlitzt hatte. Der Text lautete: der lenz ist da. heute 15.30. m. Sie nahm eine Uhr aus ihrer Manteltasche. Hypatia konnte Armbanduhren nicht leiden. Stattdessen trug sie ein großes Ding an einer Kette und mit silbernem Deckel bei sich.. Jetzt war es zwei Uhr nachmittags, in eineinhalb Stunden wäre die Strecke leicht zu Fuß zu schaffen. Das „m“ in dem Schreiben bedeutete, daß sie sich in der Mitte der Stadt treffen würden, in einer alten Villa. Es gab drei Versammlungsorte, die zufällig abgewechselt wurden. Somit waren sie sicherer. Einer davon befand sich in einem Büro, mitten im geschäftlichen Treiben, der dritte lag in einer Kellerwohnung eines Abbruchhauses an der Stadtgrenze. Sie ging nach oben in ihre Wohnung, wo weiße helle Klarheit herrschte. Es gab nur wenige Möbelstücke. Hypatia liebte Strukturiertheit und Ordnung. Nur manchmal sehnte sie sich nach den vielen Büchern, die es in der alten Villa gab. Hier befand sich kein einziges Werk. Alles was es zu lesen gab, und was auch erlaubt war zu lesen, war auf Mikrochips gebannt. Die Inhalte, die Hypatia interessierten, gab es weder auf einem Chip noch in gedruckter Form, sie Titel standen auf dem Index verbotener Literatur.
Hypatia machte sich auf den Weg. Sie ging zu Fuß, obwohl es leicht zu regnen begann. Der Geruch; sie schnupperte, nahm einen eigenartigen Duft wahr. Woran erinnerte er sie? Irgendwo tief versteckt in ihrem Hirn war die Erinnerung an ihn vergraben. An Sommer in ihrer Kindheit, wenn der Gewitterregen auf die Straßen prasselte. Ja, es roch nach heißem Asphalt, nach Staub und nach Unbeschwertheit. Schließlich erreichte sie das Haus, läutete. Ada öffnete die Türe. Als sie mit ihr in das Wohnzimmer trat, saßen bereits zwei Frauen beisammen an einem großen runden mahagoniefarbenen Tisch. Eine riesige Menge an alten Zeitungen und beschrifteten Zetteln lag verstreut darauf. Das Zimmer, vollgestopft mit alten und wertvollen Möbeln, der Boden, mit dicken Teppichen ausgelegt, ähnelte einer Abbildung aus einem Katalog für Antiquitätenmessen. Eine sehr ungewöhnliche Einrichtung, niemand würde sich mehr mit solch altem Krempel umgeben. Es mochte sein, daß das Ambiente dieses Zimmers in der Zeit zurückgeblieben war, die Frauen darin waren es jedenfalls nicht.
Lise, Ada, Mileva. Sie hatten die Vornamen von berühmten Wissenschafterinnen, von der jede großartige Kenntnissen in einem bestimmten Gebiet aufwies, als Pseudonym gewählt. Keine der Frauen kannte den wahren Namen der anderen. Eine alte List, würde man eine von ihnen erwischen, könnte sie die Identität der anderen nicht bekanntgeben. Jede ähnelte in einer bestimmten Eigenschaft ihrer Namenspatronin, die sie, so vermutete Hypatia, nicht nur wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen ausgewählt hatten, sondern auch aufgrund ihrer Persönlichkeitsmerkmale. Sie selbst fühlte sich den vielfältigen Interessen Hypatias aus Alexandria verbunden, ihrem rebellischem Temperament. Ada Lovelace war nicht nur bekannt für ihre mathematischen Fähigkeiten, sondern auch für die Zähigkeit, ihre Ziele zu verfolgen. Opium- und Alkoholsucht konnten ihre Kraft nicht bremsen, und genauso war auch die Frau, die diesen Namen als Pseudonym trug. Mileva, sie nannte sich nach der ersten Frau Albert Einsteins, von der man schon zu Lebzeiten annahm, daß sie es war, die die Relativitätstheorie berechnete. Angeblich war Mileva Einstein eine verschlossene Frau, über die man sich wegen ihres Handikaps, sie hinkte, und ihres dunklen Teints lustig machte. Die Frau, die nun am Tisch saß, wies nicht nur hinsichtlich des Aussehens Parallelen zu ihrem historischen Vorbild auf, sie war ebenfalls eine sehr ruhige Frau, wenn sie aber etwas sagte, dann zog sie damit alle anderen in ihren Bann. Sie hatte milchschokoladenfarbene Haut und dunkelbraunes Haar. An manchen Tagen, wenn das Wetter umschlug, konnte man sehen, wie sie das linke Bein leicht nachzog. Sie war ein sogenannter genetischer Ausrutscher, mußte ihre Unvollkommenheit verbergen. Mileva spielte in diesem Zirkel ein sehr wichtige Rolle. Sie war Biochemikerin und wußte somit um die künstliche Herstellung bestimmter Botenstoffe Bescheid.
Jene Frau, die sich Lise nannte, hatte vor vielen Jahren in einer Biographie über die berühmte Physikerin gelesen. Sie war sehr angetan gewesen von Lise Meitner, die sich trotz vieler Niederlagen und Ungerechtigkeiten, Otto Hahn erhielt den Nobelpreis für Kernspaltung, während sie leer ausging, nicht von Verbitterung überwältigen ließ, sondern immer darauf bedacht war, weiter zu machen, weiter zu forschen. Diejenige Lise, die im Zimmer saß, war ebenfalls Physikerin und ein Genie in der Entwicklung neuer Ideen zur Reduzierung von Lichtwellenlängen, die eine noch raschere Signalübertragung erlauben würden. Sie war die ruhigste und ausgeglichenste unter ihnen.
An diesem Abend schien sie jedoch ungewöhnlich aufgeregt und nervös. Ada erhob soeben ihr Glas Rotwein, begrüßte Hypatia: Da sind Sie ja endlich, meine Liebe, und erhob sich von dem gepolsterten Stuhl, kommen Sie nur. Wir haben Sie schon erwartet. Hypatia nahm Platz, blickte fragend in die Runde: Wer ist dieses Mal dran? fragte sie. Niemand. antwortete Mileva. Niemand? wiederholte Hypatia verwundert. Warum treffen wir uns dann? Warum haben Sie mich herbestellt? Sie hatte den üblichen Ablauf erwartet.
Die vier Frauen hatten vor zwei Jahren einen Zirkel gegründet. Sie trafen sich, wenn eine von ihnen blutete. Dann verbrachten sie die Nächte damit, Menstruationsrituale zu feiern. Sie holten die Bücher mit dem Wissen von weisen Frauen hervor. Schöne alte, in Leder gebundene Werke, die sie von ihren Müttern und diese wieder von deren Müttern erhalten hatten. Werke, die auf dem Index des Verbotenen standen. In den Geheimschränken fanden sich Lyrikbände, die Märchen aus Tausend und einer Nacht, das Kama Sutra. Besonders mochten sie die Liebesgedichte und sie lasen immer und immer wieder daraus vor, wenn sie beieinander saßen, weil sie etwas von dem Wahnsinn, der Schönheit, dem Irrwitz kosten wollten. War es wirklich so gewesen, daß die Menschen sich in Gefühle verstrickten, sich in den Tod trieben ließen? Die vier wunderten sich jedesmal aufs Neue und waren doch gleichzeitig fasziniert. Unter all den literarischen Exemplaren standen auch alte medizinische Ausgaben mit Darstellungen und chemischen Beschreibungen von Hormonen. Lise war damals vor einem Jahr die erste, die zu bluten begann. Ihr Körper hatte sich am schnellsten auf die Einnahme dieser Stoffen umgestellt. Alle waren so aufgeregt. Ein unbekannter Zustand für sie alle. Sie wollten es genau wissen, wie es sich anfühlt, wie es ihr dabei ergeht. Seit sie die Östrogene nahmen, stellte jede von ihnen leichte Gefühlsschwankungen fest. Was war das für ein merkwürdiges Kribbeln im Unterbauch, über das Ada berichtete? War das die Lust auf Sex, von der sie gelesen hatten, daß davon viele Frauen kurz vor ihrer Periode berichteten? Derartiges hatten sie nie zuvor erlebt, gehörten sie doch zu einer Gattung, die immer ausgeglichen war, es gab keine emotionalen Höhen- und Tiefflüge.
Ihre Feierlichkeiten durften sie nur im Geheimen zelebrieren. Wozu sie Zugang hatten war verboten. Frauen menstruierten längst nicht mehr. Im Laufe der Jahre war es den Forschern gelungen, den genetischen Code der Produktion von Geschlechtshormonen dermaßen umzugestalten, daß diese nur mehr in geringen Dosen ausgeschüttet wurden. Zwar konnten sich die primären Geschlechtsmerkmale entwickeln, Uterus und Eierstöcke bei den Frauen waren im Laufe der Zeit jedoch verkümmert, bei einigen sogar schon vollkommen zurückgebildet. Sie konnten keine Kinder empfangen. Männer hatten keine Samenbläschen mehr. Evolutionäre Rudimente wollte man in Zukunft ausmerzen. Das Ziel war die vollkommene biologische Gleichartigkeit zwischen Frauen und Männern. Für die Reproduktionsaufgaben war eine eigens dafür gezüchtete Spezies zuständig, sogenannte Arjihs.
Nicht nur diese Menstruationsfeste waren verboten, auch die Gedanken und Ideen, die die vier Frauen dabei sponnen. Sie wollten herausfinden, warum diese Entwicklung stattgefunden hatte. Mehr und mehr spürten sie, daß sie bei ihren Treffen einen Teil von sich selbst kennenlernten, der ihnen wunderbar und geheimnisvoll erschien. Mit der Zeit allerdings tauchten immer gefährlichere Fragen in ihnen auf. Warum konnten die anderen Frauen nicht mehr bluten? Warum war es so weit gekommen, daß Empfindungen nicht mehr vorhanden waren? War die absolute Gleichheit wirklich ein erstrebenswertes Ziel? Können Sie sich noch daran erinnern, als wir vor einem Jahr darüber zu sprechen begannen, warum die Situation ist wie sie ist? Sie wissen doch, wir hatten unsere Zweifel, daß dies nur zum Wohle der Frauen geschieht. unterbrach Mileva das Schweigen. Ja, ich erinnere mich daran. Wir glauben herausgefunden zu haben, warum unsere Blutrituale verboten sind, warum das, was wir hier erleben, untersagt ist. Würden alle Frauen solche Zirkel gründen, gäbe es eine Revolution, einen Aufstand. Hypatia verstand nicht was Mileva damit meinte. Uns wurde etwas weggenommen, was einen Teil des Menschseins ausmacht. Langsam aber sicher begann Hypatia zu verstehen. Die Argumente, die uns plausibel machen sollten, warum Frauen keine Kinder bekommen können lauten: sie sind frei für Karriere, sie müssen sich nicht mit Schwangerschaft und Kindererziehung abmühen. Frauen wären früher durch ihre Hormonschwankungen, ihre Periode, die Wechseljahre eingeschränkt gewesen. Da aber seit Generationen nur mehr Frauen existieren, die diese weiblichen Nachteile nicht mehr mit sich bringen, ist deren Leben um ein Vielfaches verbessert worden. Das ist aber nicht so. Es war kein Zufall, daß wir an diesen Aussagen zu zweifeln begannen, warf Lise ein. Sehen Sie einmal hierher. Mileva zeigte auf eine alte vergilbte Tageszeitung aus dem Jahr 1998. Sie hatte eine Seite aufgeschlagen, Rubrik Wissenschaftsteil, auf dem ein Bericht abgedruckt war. Einige Stellen waren mit einem blauen Stift markiert. Sie las vor: Es kommt zu einem verlangsamten Generationswechsel, die Frauen werden immer älter, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Kürzlich wurde ein Fall in Italien bekannt, wo eine Frau mit 60 Jahren eine Baby erwartete. Weiter unten ist zu lesen: Die Folgen dieser Entwicklung sind finanzielle Engpässe in den Staatskassen. Pensionszahlungen sind nicht mehr gewährleistet.
Lesen Sie das! Mileva zeigte auf einen anderen Artikel. Hier stehen die Sätze, mit denen uns unser Dasein schmackhaft gemacht wird. Frauen sind keinen hormonellen Schwankungen unterworfen, sie sind genauso einsatzfähig im Beruf wie die Männer. Ihr Karriere ist durch Schwangerschaften und folglich durch die Kindererziehung nicht mehr behindert. Ada schloß sich den Ausführungen Milevas an: Sie wissen, was damals passierte? Langsam aber sicher begann man zu kontrollieren, ob die Frauen schwanger waren oder nicht.
Durch Urinproben konnte ihr Zustand überprüft werden. Fragen, wie Möchten Sie noch Kinder waren nicht mehr verboten, während eines Vorstellungsgespräches wurden die Frauen an eine Art Lügendetektor angeschlossen, sie hatten also sowieso keine Möglichkeit, den Wunsch zu verleugnen. Die beiden Frauen hielten kurz inne, dann setzte Mileva fort: Diese Kontrollmittel gibt es jetzt auch noch. Es werden Stichproben durchgeführt, wenn wir aufs Klo gehen. Es folgen Zeitmessungen, da man bei Schwangerschaften einen größeren Blasendrang hat, dann gibt es auch noch die alte Technik der Harnüberprüfung. Ursprünglich waren diese technischen Vorrichtungen als Gesundheitscheck gedacht, bis man schließlich und endlich diese Einrichtungen so verfeinerte, daß eventuelle Schwangerschaften ohne Wissen der Frau nachgewiesen werden konnten. Die Methode war und ist denkbar einfach. Während der Periode gibt es stärkere Kontraktionen in der unteren Bauchmuskulatur. Dabei werden Schwingungen übertragen, die mittels eines Sensors, der am Toilettenrand befestigt ist, gemessen werden. Gesundheitskontrolle, das ist die offizielle Erklärung dafür, deshalb werden die Proben auch bei den Männern gemacht, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, deren Tests werden jedoch vernichtet. Moment! rief Hypatia. Warum führt man das überhaupt durch? Frauen sind doch trocken. Woher wissen Sie das alles? Als ich die Artikel gelesen hatte, wollte ich es einfach wissen. Ich kenne einen Mann, der in dem Konzern arbeitet, wo Auswertungen stattfinden. Er ist ebenfalls Biochemiker. Wir trafen uns das erste Mal bei einem Seminar, während der Pause sprachen wir miteinander. Ich weiß nicht mehr wie es passierte, jedenfalls, begannen wir über die chemische Zusammensetzung der Wachstumshormone zu sprechen. Er hat entdeckt, daß es in seinem Labor vor einigen Jahren zu Fehlern bei der Reifestartung der Eizellen gab. Das Ergebnis war, daß sich daraus Frauen und Männer entwickelten, die über vollständige Fortpflanzungsorgane verfügten. Die Firma vertuschte den Unfall, jedoch wurden Maßnahmen eingeleitet, die Kontrollen zu verschärfen, um weitere Vorfälle zu verhindern und sei es um den Preis, daß die betreffenden Personen einfach eliminiert werden. Während Mileva von ihrem Treffen mit diesem Biochemiker berichtete, spürte Hypatia, wie etwas Seltsames in ihr hochstieg. Was war es? Groll? Wut? Eifersucht? Mileva setzte ihrer Ausführungen fort: Das alles wurde durchgeführt aus Unsicherheit darüber, ob man die Fortpflanzungsfähigkeit der Menschen bereits vollkommen unter Kontrolle hatte. Darin liegt ja auch eine weitere Gefahr unserer Blutzirkel. Sie wissen, daß Frauen, wenn sie bluten, auch die potentielle Möglichkeit haben, ein Kind zu empfangen. Dann dienen die Blutkontrollen, die vierteljährlich im Gesundheitszentrum gemacht werden, ebenfalls einem solchen Überprüfungszweck? fragte Lise. Ich vermute ja. Eine Art Doping-Kontrolle? Ada wurde plötzlich weiß im Gesicht, ihr schien jetzt erst richtig bewußt geworden zu sein, in welcher Gefahr sie alle vier schwebten. Es war völlig unproblematisch, Hormone im Blut und im Harn nachzuweisen. Hatte man sie etwa schon entdeckt? Lise schien ihre Gedanken gelesen zu haben: Ich hoffe auch, daß man uns noch nicht auf die Schliche gekommen ist. Seit einem Jahr nehmen wir die Östrogene. Lise überlegte kurz. In der Zwischenzeit hätten sie uns schon verhaftet, wenn sie uns entdeckt hätten. Die Blutproben dienen allerdings auch dazu, eine Analyse der DNS-Sequenz durchzuführen. Nur einwandfreies Genmaterial darf weitergegeben werden, obwohl wir mit Hilfe der medizinischen Technik durchaus in der Lage sind korrigierend einzuspringen. Mileva hatte recht, es war kein Problem mehr, körperliche Leiden zu kurieren. Organspende, ein veraltetes Vokabular. Herzen, Leber, Nieren wurden künstlich erzeugt. Man mußte nur die entsprechende Geninformation in einen Zellstamm injizieren. Menschen mit körperlichem Leiden wurden gar nicht gezeugt, genauer gesagt mit körperlichem oder seelischem Leiden wurden nicht gezeugt. Passierte doch ein Unfall, dann wurde der menschliche Müll entsorgt. Deshalb waren genaueste Prüfmethoden notwendig, bevor die Zellen in ein Arjih eingepflanzt wurden.
Arjihs gehörten zum dritten Geschlecht. Da die Frauen und Männer zur Fortpflanzung nicht mehr fähig waren, mußten Arjihs diese Funktionen übernehmen. Sie waren ein Mittelding zwischen den beiden anderen Geschlechtern und genauso wurden sie auch behandelt – als Ding, obwohl sie eine wichtige Funktion innehatten, nämlich für den Erhalt der menschlichen Rasse zu sorgen. Aber niemand beschwerte sich darüber oder regte sich auf. Es war einfach so. Eines Tages stieß Ada jedoch in einem Buch über das dritte Geschlecht auf ein Kapitel, das sich mit Hermaphroditen in Indien beschäftige. Man nannte sie Hijra. In den meisten Fällen war sie biologisch gesehen Männer. Einige von ihnen betrachteten sich selbst als unvollständige Männer, weil sie keine sexuellen Begierden für Frauen empfanden. Andere fühlten sich als Frauen, sie handelten und kleideten sich weiblich. Viele unter ihnen waren Prostituierte und wurden dementsprechend schlecht behandelt. Drehte man die Bezeichnung Hijra um, so entstand daraus Arjih. War das die Ursache, daß man sich ihnen gegenüber negativ verhielt, weil sie eine Art Freiwild darstellten? Arjihs wurden nicht gefragt, ob sie sich bereit erklärten, ein Kind auszutragen, sie wurden dazu gezwungen. Sie gehörten zu einer Gattung von Wesen, die die Gebärmutter noch in sich trugen. An ihrer Kleidung konnte man erkennen, in welchem Zustand sie sich befanden. Waren sie leer trugen sie Blau, waren sie gefüllt trugen sie Rot.
Lise zum Beispiel hatte sich schon oft gefragt, ob das der Grund war, warum ausgerechnet die Frauen einer solch strengen Kontrolle unterzogen wurden. Schließlich war noch immer ein Körper mit Uterus notwendig, und bei manchen Frauen funktionierte er wider Erwarten. Man arbeitete seit langer Zeit schon daran, es zu ermöglichen, Menschen außerhalb eines lebenden Organismus heranreifen zu lassen, jegliche Versuche waren gescheitert. Die meisten Zellen starben kurz nach der Startung ab. Außerdem dauerte der Reifungsvorgang zu lange, obwohl man die Zeit bereits von neun auf sechs Monate kürzen konnte. Seine Nachkommen selbst zusammensetzen war eine Routineangelegenheit. Dazu mußte nur die geeignete Aminosäurensequenz in eine Datenbank eingegeben werden. Für alle Arten von Eigenschaften wurde die entsprechende DNS-Abfolge angeführt. Sollte jemand einen wichtigen Teil vergessen haben, wie zum Beispiel die Augenfarbe, machte einen das System darauf aufmerksam. Die entsprechenden Angaben für Körperteile, wie innere Organe und Extremitäten wurden vom Computer selbst ergänzt. Auf diese Weise wurde nicht riskiert, daß sich jemand ohne Arme oder ohne Gehirn entwickelte. Nach wenigen Minuten erhielt man die Bestätigung der Bestellung und konnte den DNS-Strang abholen lassen, eingepackt in ein kleines Bläschen. Die Befruchtung mit Spermien war nicht mehr notwendig, da sowohl die weiblichen als auch die männlichen Zellen bereits vereinigt waren. Hypatia wiederholte oft das Wort Befruchtung. Wie seltsam es klang, wenn man es immer und immer wiederholte. Frucht. Frucht. Frucht. Frisch. Lebendig. Auch der Begriff Fortpflanzung implizierte Natur. Jetzt nannte man diesen Vorgang Startung. Das Bläschen mußte nur mittels einer Kanüle in den Uterus eingeführt werden. Ein alte, aber sehr effiziente Methode, die die Leute selbst durchführen konnten.
Wer Nachwuchs haben wollte, wurde einer strengen Kontrolle unterzogen. Kinder zu bekommen, war nicht mehr nur den Frauen vorbehalten, auch Männer konnten welche bestellen. Bestellung, das war die richtige Bezeichnung. Wichtig war, daß jeder, der Kinder wollte, ein Arjih aufweisen mußte. Wer sich eine solche nicht leisten konnte, für den gab es auch andere Möglichkeiten. Klinisch tote Körper wurden aufbewahrt, und ihnen konnten die Zellen eingepflanzt werden. Der Nachteil dieser kostengünstigeren Variante war, daß die Ernährung minderwertiger und nach der Geburt keine Betreuung vorhanden war. Dies gestaltete den Ablauf kompliziert, da die Eltern nicht wegen eines Kindes zu Hause bleiben konnten und wollten, dann wurden die Babys in eine staatliche Verwahranstalt gegeben. In der Regel wurde es jedoch so gehandhabt, daß Arjihs drei Jahre bei dem Kind blieben. Danach war eine öffentliche Institution für deren Sozialisierung zuständig, es handelte sich dabei um eine Ausbildungsstätte. Die Kinder sollten so früh als möglich zu lernen beginnen. Hier gab es Gruppen, in denen die Kinder mit denselben Talenten zusammengefaßt wurden, einige Kinder verfügten über Fertigkeiten auf technischem Gebiet, andere über sprachliche Fähigkeiten. Man wollte Menschen mit spezifischen Fertigkeiten heranzüchten. Problematisch wurden die Trennungen, wenn sich zwischen Arjih und Kind eine emotionale Bindung ergeben hatte. In letzter Zeit gab es oft Meldungen darüber, daß sich Arijhs in ihrer Verzweiflung in den Tod stürzten.
Aber was ist mit dem Alter? fragte Ada und trank einen Schluck Rotwein. Sie hielt ihren Zeigefinger auf eine Stelle in einem anderen Artikel. Da steht, daß sich bei Frauen das Risiko erhöht, mit zunehmendem Alter ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Ja, nicht nur das war ein Manko am weiblichen Geschlecht, obwohl die Spermien älterer Männer ebenfalls für einen Defekt verantwortlich waren. Wir werden doch alle älter, kicherte Ada. War sie beschwipst? Es machte bei den Männern aber damals nichts aus, die wurden immer interessanter. Für Frauen aber versiegten nach und nach die Möglichkeiten, die biologischen, die beruflichen, obwohl sie viel robuster waren und eine längere Lebenszeit aufwiesen. Ich kann mich noch gut erinnern, als Versuche durchgeführt wurden mit einer kalorienreduzieren Diät, um die Lebensspanne der männlichen Exemplare zu verlängern. Dabei hatte man festgestellt, daß bei weniger Nahrungszufuhr auch die Wärmeentwicklung im Körper geringer ist, die Mitochondrien ebenfalls langsamer arbeiten. Das Problem war, daß die Lebewesen sehr träge wurden. Die Auswirkung auf die männlichen Menschen war zwar lebensverlängernd, aber nicht lebensfreudiger. Mit einem Augenzwinkern ergänzte sie: Sie wissen, was ich meine mit lebensfreudiger. Sie setzte fort: Was ist mit dem Tod? Die anderen wußten, was es geschlagen hatte, wenn Ada begann von einem Thema zum anderen zu wechseln. Sie mußten sie dann immer behutsam zurückführen auf den Kern einer Diskussion. Lise gelang dieser Balanceakt jedesmal auf sehr geschickte Weise. Sie fragte Ada: Sehen Sie, was aus der analytischen Maschine geworden ist, die zuerst von Babbage entworfen, dann von Ada Lovelace weiterentwickelt wurde? Ja, der gute alte Charles. seufzte Ada. Es geht hier doch nicht um den guten alten Charles, wie Sie ihn nennen, sondern darum, was aus den Programmierungsanfängen geworden ist. Ich weiß, entgegnete Ada, eigentlich wollte sie ja nur ein paar Modelle entwickeln für mathematische Berechnungen. Aber sie warnte schon damals davor, zu glauben daß die Maschine etwas Neues erfinden könnte. Sie ist dumm, gibt nur wieder, was der Mensch eingegeben hat, der Apparat ist nur ein Diener, der selbst nichts Neues entwerfen kann. Sie ahnte, daß zum Beispiel eines Tages damit Musik komponiert werden könnte. Aber nun…., sie hielt inne, Fluch und Segen des Computers. Jetzt war es klar, Ada war tatsächlich schon etwas betrunken, ihnen drohte eine Moralpredigt wegen moderner Verhaltensweisen. Lise setzte an zur Adas Rückholung in die ursprünglichen Thematik. Ich habe auch das Gefühl, daß wir uns der virtuellen Welt ausliefern. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß Menschen überhaupt keine Schwierigkeit haben, via Netz miteinander zu kommunizieren? Aber wehe, sie stehen einander wahrhaftig gegenüber, womit wir wieder beim Problem wären. Die Erotik ist futsch, Tod in der zwischenmenschlichen Beziehung. Ada hatte eine eigenartige Antwort auf ihre Frage erhalten und Lise war fast wieder bei ihrem eigentlichen Thema.
Es folgte ein Diskurs, was denn nun eigentlich der Sinn ihrer Aktionen sei. Wie könnten sie weitermachen? Sollen wir andere Frauen davon informieren? Sollen wir unsere Ideen öffentlich machen? Nein, das ist zu gefährlich. Außerdem würden wir nur auf taube Ohren stoßen, sie kennen nichts anderes, wie sollten sie verstehen, daß sie eines wesentlichen Teiles beraubt wurden? rief Mileva. Sie kennen doch diesen netten Biochemiker, wie heißt er denn doch? fragte Lise Hypatia. Philip. antwortete sie und blickte dabei auf Mileva. Ja, genau der. Lise reagierte, als würde Hypatia eine unüberschaubare Menge von Männern kennen. Philip war so etwas wie ein inoffizielles Mitglied in diesem Geheimbund. Er nahm Testosterone ein, schon längere Zeit hatte er mit Hormonen experimentierte, wußte Bescheid, woher die Grundsubstanzen zu bekommen waren. Mit Hilfe Milevas entzifferte er die chemische Zusammensetzung, danach konnte Philipp die Stoffe problemlos synthetisieren, er benötigte dazu nur die korrekte Abfolge von Aminosäuren. Diese injizierte er einem Zellstamm, der das Hormon produzierte. Am wichtigsten war die exakte Mengenangabe, die jede Frau einnehmen durfte.
Deshalb war es Hypatia schon einige Male aufgefallen, daß er sie mit einem etwas eigenartigen Blick angesehen hat. Jetzt verstand sie, die Hormone taten ihre Wirkung bereits. Könnten Sie ihn nicht fragen, was es an neuen Erkenntnissen gibt? Er erwähnte etwas von Fermentationsprozessen. Wollen Sie den Männern im Joghurt eine Dosis Testosteron verabreichen? frage sie. Lise fand die Idee witzig. Männer würden dieses weiße Etwas aus den Bechern löffeln und nach einiger Zeit eine seltsame Erregung feststellen. Glauben Sie wirklich, daß er mir die Informationen ohne Gegenleistung gibt? Hypatia überlegte sämtliche Möglichkeiten, wie sie an das Wissen herankommen könnte. Philipp ist eigentlich ein recht kooperativer Mensch, der sich auch ohne Belohnung bereit erklären würde, uns zu helfen. Was wäre aber, wenn er sich als Spitzel entpuppte, der nur auf den geeigneten Moment wartete? Er könnte uns alle auffliegen lassen. Daran haben wir auch schon gedacht. Aber er ist zur Zeit unsere einzige Quelle, erstens, um herauszufinden, welche Herstellungsmöglichkeiten es noch gibt. Zweitens dient er als Versuchskaninchen. Wir könnten feststellen, ob die Geschlechtshormone tatsächlich ausreichend dafür sind, um den Funken zwischen Frau und Mann überspringen zu lassen. Das heißt, daß ich im Notfall auch Sex mit ihm haben müßte? rief Hypatia und blickte dabei auf Mileva. Jetzt wußte Hypatia, warum diese seltsame Gefühlsregung von vorhin in ihr aufgestiegen war. Es war Eifersucht. Mileva und sie kannten denselben Mann. Philipp hatte sich also auch Mileva offenbart, er hatte ihr sogar mehr erzählt, denn die Angelegenheit mit den vernichteten Proben und den fortpflanzungsfähigen Menschen war ihr neu. War Mileva schon dran an ihm? Was war das für eine eigenartige Emotion in Hypatia? War sie verliebt in Philipp? Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen! Die Aktion wird mißlingen. Lust, Orgasmus, diese Begriffe kenne ich nur aus Büchern, ich habe aber das noch nie selber empfunden. Ich kann das nicht! Sie winkte ab. Sie sollten doch nicht an gleich an das Schlimmste denken, versuchte Mileva sie zu beschwichtigen. Warum gehen Sie denn nicht zu ihm? fauchte Hypatia. Sie kennen ihn doch auch, nicht wahr. Er ist es doch, der diese Tests durchführt, oder etwa nicht? Mileva riß die Augen auf. Ja, Sie haben recht, wir sprechen von demselben Mann. Fast eine Minute herrschte Schweigen zwischen den Frauen. Welche Rolle spielte Philipp da eigentlich? Hypatia hatte sich als erste gefaßt: Also gut, nehmen wir den Fall an, daß ich tatsächlich mit ihm ins Bett gehen muß. Was ist, wenn ich mich anstecke? Wie kann ich mich schützen? Früher gab es doch diese Dinger, wie nannte man sie? Kondome, warf Ada ein. Trotz ihres angeheiterten Zustandes, war ihr Gedächtnis noch immer gut in Schuß, und die gibt es nicht mehr. Die Furcht Hypatias war berechtigt. AIDS wurde schon vor vielen Jahren besiegt mittels chemische Behandlungen. Trotzdem waren immer wieder neue Seuchen aufgetreten. Zum Beispiel KAIIYD. Diese war die heimtückischste unter ihnen. Schon ein herkömmlicher Kuß konnte jemanden anstecken, daher auch der Name KAIIYD: Kissing and intimicy is your death. Einen Kuß würde sie Philipp geben müssen, das gehörte zur Prozedur. Was ist, wenn sie schwanger wird? Aus den Büchern wußte sie, daß es damals ein Hormonpräparat speziell für Frauen gegeben hatte. Die Frauen mußten sich allerdings schon lange nicht mehr den Kopf zerbrechen über die Möglichkeiten, ihre Fruchtbarkeit zu erhöhen oder eben keine Kinder zu bekommen, somit war diese Pille, wie sie genannte wurde, nicht erhältlich. Vielleicht sollte sie es mit natürlichen Verhütungsmethoden versuchen? Das Wissen war über Generationen von Frauen weitergegeben worden und glücklicherweise vor langer Zeit aufgeschrieben worden. In den versteckten Bücherregalen würde sie sicher etwas darüber finden.
Verstehen Sie, es geht darum, eine wesentliche Komponente des Frauseins wiederherzustellen. holte Mileva sie aus ihren Grübeleien zurück. Sie wußten, daß unter anderem die Geschlechtshormone im Körper zuständig waren für Gefühle, diese auslösten. Liebe und Erotik. Was waren das für Ausdrücke? Bis vor kurzer Zeit kannten die vier diese Beschreibungen nur theoretisch, seitdem sie aber Zugang hatten zu Östrogenen schien es, als würden in ihnen nach und nach diese Emotionen losbrechen.
Der Abend war schon weit fortgeschritten, die vier Frauen saßen noch immer beisammen am Tisch. Hypatia nahm eine von Adas filterlosen Zigaretten aus der Packung, zündete sie an, blies den Rauch aus ihrer Nase. Ein paar Minuten herrschte Stille, alle spürten die Gedanken in den Köpfen rotierten. Dann zeigte sich ein Lächeln auf Adas Gesicht. Die Sequenz könnte man doch in einen Siliziumchip einbauen, eine uralte, sehr plumpe Methode, jedoch simpel. Ada wußte Bescheid, wie das funktionieren könnte, nicht umsonst hatte sie dieses Namen als Pseudonym gewählt. Einen Siliziumchip aufzutreiben wäre kein Problem, man ätzt mit normaler UV-Strahlung die Informationen ein. Vollkommen unauffällig. Wie bitte? fragten die anderen aus einem Mund. Sie verstanden nicht, denn Adas Einfall kam so plötzlich, daß sie nicht wußten, wovon sie eigentlich sprach. Es wäre doch möglich die Aminsosäurenabfolge, die zuständig ist für die Ausschüttung von Geschlechtshormonen, in einen Chip zu ätzen. Diesen könnte man dann am Kopf implantieren. Die Impulse, die von diesem Chip ausgehen, übertragen sich über die Hautnerven in das zentrale Nervensystem. Genauer gesagt, müßten diese Nervenimpulse in den Hypophysenvorderlappen gelangen. Ada schien mehr mit sich selbst zu sprechen als mit den anderen zu sprechen, ihr Blick war an die Decke geheftet. Das einzige Problem wird die Schädeldecke sein, sie ist zu dick. Lise holte sie mit einer Frage wieder zurück in ihre Gesprächsrunde. Ist das alles nicht ein bißchen kompliziert? Ada, Sie machen der Bezeichnung Phantastin alle Ehre. Ich meine, es müßte doch auch einfachere Methoden geben. Könnte man diese Substanz nicht künstlich erzeugen und dann oral verabreichen oder injizieren? Wie wollen Sie das anstellen? Zwingen können Sie die Männer nicht, das Zeug einzunehmen. Ohne ihr Wissen dieses Experiment durchführen, das geht gegen meine ethische Einstellung. Ada ging auf die Bedenken von Lise nicht ein, sie ließ sich von der Idee mit dem Chip nicht abbringen und fuhr mit ihren Ausführungen fort. Vielleicht könnte man den Chip so installieren, daß die magnetische Strahlung über den Monitor eine Wirkung auslöst? Dann gerät alles außer Kontrolle. erwiderte Hypatia, die wußte, daß die Idee Adas nicht undurchführbar war, aber sie kannte auch Wirkung der Strahlung und daß sie jeden und vor allem jede beeinflussen konnte, der oder die sich in der Nähe des Computers aufhielt.
Einen Augenblick! rief Lise, Was war denn der ursprüngliche Zweck unseres Treffens? Meine Damen, rufen Sie sich den bitte wieder ins Gedächtnis! Wir vier erleben, was für alle Frauen vor vielen Jahren normal war. “ „Normal, aber nicht immer förderlich. warf Hypatia ein. Lise holte weiter aus: Ich glaube nicht, daß wir zu unseren Wurzeln zurückfinden, wenn wir uns jetzt den Kopf zerbrechen, wie wir die Männer dazu bringen, ihre Hormone einzunehmen. Betrachten wir doch einmal die Tatsachen: Die Frauen und Männer sind gleichberechtigt, es gibt keine Unterschiede mehr. Dieser Umstand klingt positiv. Aber wir haben bemerkt, daß es anders sein kann, darin liegt die Gefahr. Wir verspürten den Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit, wir begannen, die Männern mit anderen Augen zu betrachten. Wir haben festgestellt, daß man uns etwas weg-entwickelt hat, nämlich einen wesentlichen Teil des Menschseins. Hypatia, wollen Sie nun mit Philipp das Experiment wagen? Er hat nun einmal das notwendige Wissen, wie diese Stoffe zu produzieren sind. Hypatia nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, dämpfte sie aus, überlegte einen kurzen Moment. Nein, sagte sie, ich werde es nicht tun. Man konnte spüren wie den anderen Frauen die Luft wegblieb. Finden Sie es nicht etwas absurd? Was wollen Sie denn machen? Dann klappt das Experiment, wir verlieben uns im schlimmsten Fall ineinander. Ist das der Zweck? Finden Sie es wirklich so schlimm, daß wir alle gleichgestellt sind? Wollen Sie dem Leben mehr Würze verleihen, indem Sie wieder in alte Strukturen verfallen? Das nötige Wissen, um die Östrogene zu erzeugen, kann ich mir auch woanders herholen. Die Blutzirkel sind mein Privatvergnügen. Sie betonte das Wort mein. Wenn Sie unbedingt einen Mann zwischen sich haben wollen, bitte, bedienen Sie sich Philipps Person. Ich ziehe unsere Treffen ohne ihn vor. Geben Sie mir Bescheid wegen ihrer Entscheidung. Gute Nacht. Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Mileva folgte ihr hinaus. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Die beiden Frauen blickten einander an. Sie wissen doch wie es ist, ein normal gezeugtes Kind zu sein, nicht wahr? fragte Hypatia. Ist dann der Preis dafür, daß wir uns verstecken müssen, weil wir anders sind? Sie, ein Unfall der Liebe mit Ihrem Hinkebein. Ich ein Unfall der Begierde, mit meinem aufbrausenden Temperament? Sollen wir dieselben Fehler machen wie unsere Eltern? Ich würde Ihnen raten, sich möglichst schnell nach einer Lösung ihres Problems umzusehen. Sie wissen, daß sie kein sauberes Genmaterial weitergeben. Dabei warf sie einen kurzen Blick auf den Bauch von Mileva, dessen Rundungen schon leicht zu erkennen waren. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Doch nun roch der Asphalt nicht mehr nach unbeschwertem Sommer einer Kindheit. Sie nahm die Uhr aus ihrer Manteltasche. Es war kurz nach Mitternacht. Der Sekundenzeiger bewegte sich unermüdlich und trieb ihre biologische Zeit voran.