Jan Eric Hellbusch im Gespräch mit Georg Schober

Barrierefreiheit für „normale Behinderte und behinderte Normale“ – Teil 1

Ein Interview zum Thema Barrierefreiheit im Internet mit Jan Eric Hellbusch aus Deutschland

Georg Schober:
Herr Hellbusch, wenn man sich mit dem Thema Barrierefreiheit zu beschäftigen beginnt, stößt man recht bald auf Ihren Namen. Bereits 2001 haben Sie das KnowWare Heft „Barrierefreies Webdesign“ veröffentlicht und 2004 das Buch „Barrierefreies Webdesign – Praxishandbuch für Webgestaltung und grafische Programmoberflächen“ publiziert. Sie stellen auf der Site barrierefreies webdesign.de eine wahre Fundgrube an Tipps und Informationen zur Verfügung und Sie halten Vorträge und Kurse, in denen Sie den Gedanken der Barrierefreiheit forcieren.

Was hat Sie bewogen, sich mit dem Internet und dem Thema Barrierefreiheit auseinanderzusetzen und welche Fragen rufen derzeit Ihr besonderes berufliches Interesse hervor?

Jan Eric Hellbusch:
Mit dem Thema begann ich mich bereits 1995 zu beschäftigen und zwar, weil ich mit einer fortschreitenden Sehbehinderung zu kämpfen hatte. Als die Web Content Accessibility Guidelines 1999 veröffentlicht wurden, begann ich mich auch mit den Techniken im Web auseinanderzusetzen und veröffentlichte aus Interesse den einen oder anderen Artikel. Und aus diesem Interesse ist über die Jahre eine erfüllende und auch fordernde Aufgabe geworden.

Viele der Fragen von vor fünf Jahren sind heute schon gelöst. Das ist zum Beispiel die standardkonforme Verwendung von HTML. Auch ist der Einsatz von CSS heute kein Problem mehr, zumindest in der Theorie. Aber es gibt auch andere Webtechniken, die aus verschiedenen Gründen Probleme bereiten. Ein Beispiel ist JavaScript, wenn Anwendungen volldynamisch programmiert sind. Ein weiteres Problem ist das PDF-Format, es wird häufig eingesetzt, ist aber schwer zugänglich zu gestalten.

Schober:
Können Sie Ihr Verständnis von Barrierefreiheit in einem Satz zusammenfassen?

Hellbusch:
Barrierefreiheit ist die Kunst, Webseiten so zu gestalten, daß jeder sie lesen und nutzen kann.

Schober:
Unter dem Titel „Barrierefreie Informationstechnik im Überblick“ http://www.barrierefreies-webdesign.de/barrierefrei/ueberblick.html werden anhand von neun Punkten die wichtigsten Aspekte der Barrierefreiheit in der Informationstechnik für diejenigen unter Ihnen, die es gerne ein wenig ausführlicher hätten, zusammengefaßt.

Wem nützt das Verschwinden der Stolpersteine im Internet, und für welche Gruppen ist der Abbau von Barrieren besonders wichtig?

Hellbusch:
Allen Menschen. Besonders wichtig ist der Abbau von Barrieren für diejenigen Nutzer in den verschiedenen Zielgruppen, die behinderungsbedingt auf andere Ein- und Ausgabegeräte als Maus, Bildschirm und Drucker angewiesen sind. Zu nennen sind zum Beispiel die Tastaturnutzung oder Sprachausgabe. Und wenn die Barrierefreiheit über die behindertenbezogenen Schwierigkeiten hinaus auf die Allgemeinheit übertragen wird, dann kommen viele weitere Geräte wie beispielsweise PDAs dazu.

Es gibt auch viele weiche Kriterien, etwa Verständlichkeit, die allen helfen. Man darf aber nicht vergessen, wer besonders von Maßnahmen der Vereinfachung profitiert.
Ein anderes Beispiel sind Kontraste: Obwohl es möglich ist, Kontraste zu messen, kann keine Aussage über die subjektive Wahrnehmung gemacht werden. Je besser die Kontraste, desto besser auch die Wahrnehmbarkeit.

Schober:
Welche Mehrkosten entstehen für behinderte Menschen durch den Kauf notwendiger Zusatzgeräte, um das Internet überhaupt nutzen zu können?
Gibt es in Deutschland, wenn erforderlich, Unterstützung für die Betroffenen?

Hellbusch:
Die Anschaffung von Hilfsmitteln kann sehr teuer werden. Ein vollfunktionsfähiger Blindenarbeitsplatz kann 20.000 Euro und mehr kosten. Das umfaßt Rechner, Screenreader, Braillezeile und einiges mehr wie beispielsweise Monitor, Lautsprecher, Scanner, Drucker, OCR (Software für Schrift/Texterkennung).

Ein Sehbehindertenarbeitsplatz ist nicht ganz so teuer, aber Vergrößerungssysteme und bedienbare Hardware (Drucker, Telefon usw.) müssen berücksichtigt werden. Die Bedienung der Hardware (der Geräte) wird über barrierefreie Anwendungen am PC gesteuert. Über die Kosten eines Arbeitsplatzes für Körperbehinderte kann ich nichts sagen.

Sofern jemand mit einer Behinderung erwerbstätig ist, können in Deutschland verschiedene Kostenträger für die Kostenübernahme in Frage kommen, etwa Arbeitsagentur, Integrationsamt oder Rentenversicherungsträger.

Im privaten Bereich sind die Krankenkassen zuständig. Leider ist die Bewilligungspraxis in Deutschland nicht ganz so positiv, zumindest werden, was Computerhilfsmitteln angeht, immer wieder nicht nachvollziehbare Ablehnungen von Anträgen bekannt. Im zweitschlimmsten Fall erhält der Versicherte ein altes Gerät aus einem Depot.

Schober:
Welche Mindestvoraussetzungen sollte eine Site erfüllen, die für sich in Anspruch nimmt, barrierefrei, oder vorsichtiger formuliert, barrierearm, zu sein? Ist in diesem Zusammenhang mit Mehrkosten bei der Site-Erstellung zu rechnen?

Hellbusch:
Das sind zwei sehr unterschiedliche Fragen. Einen Mindestanspruch möchte ich nicht festsetzen, denn ich bin nicht „der Nutzer“. Aber ich habe oft Seiten gesehen, auf denen

  • Alternativtexte fehlen (Anmerkung von Schober: Diese Texte sollen den Inhalt, die Botschaft des Bildes beziehungsweise der Graphik in aussagekräftige Worte fassen).
  • wo die Schrift zwischen 9px und 11px skaliert und – „Barrierefreiheit“ behauptet wurde

Was bei der Barrierefreiheit zu berücksichtigen ist, steht in den WCAG bzw.für Deutschland in BITV. Es handelt sich um behindertenbezogene Kriterien zum Abbau von Barrieren, die Blinden, Körperbehinderten, Sehbehinderten, Gehörlosen und Lernbehinderten zugute kommen. Viele dieser Richtlinien fördern durch ihre Erfüllung auch ganz allgemein die Benutzerfreundlichkeit der Site.

In den vergangenen Jahren fand man immer wieder Veröffentlichungen zu den Kostenersparnissen bei der Umsetzung der Barrierefreiheit. Die Argumentationsketten waren sehr dürftig und beruhten auf Serverentlastung. Solche Kostenersparnisse entstehen möglicherweise bei der Umstellung auf semantisches CSS-Design und bei Trafficvolumen im Terrabyte-Bereich.

Kosten entstehen selbstverständlich, vor allem wenn die Barrierefreiheit wirklich angestrebt wird.

Beispiele:

  • Erlernen der neuen Techniken
  • Anpassung von Werkzeugen
  • Schulung von Redakteuren

Und diese Kosten entstehen immer wieder bei Relaunch und Personalfluktuation. Aber ich muß auch sagen, daß diese Kosten immer entstehen, wenn man ein modernes, individuelles und nutzerorientiertes Angebot bieten möchte.

Schober:
Wie sehen bei Ihnen in Deutschland die gesetzlichen Vorschriften aus?
Sind diese Bestimmungen ausreichend oder gibt es Ergänzungsbedarf?

Hellbusch:
In Deutschland gibt es Regelungen zur Informationstechnik für die Bundesverwaltungen. Die Fristen zur Umsetzung sind Ende 2005 abgelaufen und es gibt keine Konsequenzen: Viele Angebote halten nicht annähernd die Vorgaben ein. Auch die Länder haben vergleichbare Gesetze mit anderen Fristen und anderen Geltungsbereichen, die teilweise Kommunen, Hochschulen usw. einbeziehen. Letztendlich sind die Regelungen aber so wie auf Bundesebene und es bleibt abzuwarten, wie sich die Fristen auswirken.

Schober:
Was geschieht, um Unternehmen und Institutionen für das Thema „Barrierefreiheit“ zu sensibilisieren?

Hellbusch:
Was in Deutschland fehlt, ist die Umsetzung eines Antidiskriminierungsgesetzes, das auch die Wirtschaft einbeziehen würde.

Das Gleichstellungsgesetz bietet das Instrument der Zielvereinbarung, das aber auf freiwilliger Basis beruht. Behindertenverbände können mit der Wirtschaft solche Vereinbarungen treffen, sofern die Wirtschaft solche Vereinbarungen anstrebt. Seit Inkrafttreten des Gesetzes 2002 ist eine solche Vereinbarung mit einer Pharmaunternehmung abgeschlossen worden.

Schober:
Wie viele BetreiberInnen privater Sites konnten bisher für das Thema „Barrierefreiheit“ interessiert werden, und gibt es Software, die es Privatpersonen oder kleinen Firmen zu einem leistbaren Betrag ermöglicht, ohne den Besuch eines Kurses bzw. ohne weitreichender Programmierkenntnisse, eine barrierefreie Site selbst zu erstellen?

Hellbusch:
Die Zahl der barrierefreien Webauftritte ist nach wie vor verschwindend gering, aber man stößt oft unverhofft auf gute Seiten.

Bei den kleineren Anbietern ist es ohne gute Kenntnisse in HTML und CSS kaum möglich, Barrierefreiheit auf der Grundlage der Standardkonformität anzustreben. Auch die WYSIWYG-Editoren sind da kaum eine Hilfe.

Schober:
Anhand welcher Kriterien kann der/die NutzerIn, KundIn die Kompetenz von WebdesignerInnen in bezug auf „Barrierefreiheit“ beurteilen? Welche Minimalvoraussetzungen müßte solch ein Kriterienkatalog enthalten?

Hellbusch:
Diese Frage kann ich so nicht beantworten. „Barrierefreiheit“ kann man nur mit gutem Kenntnis der Richtlinien beurteilen. Anders ist die subjektive Bewertung, wobei die Trennung zwischen Barrierefreiheit und Gebrauchstauglichkeit fließend ist. Auch ist die Frage abhängig von den Kenntnissen des Bewertenden über die Arbeitsweisen von Menschen mit Behinderungen.

Schober:
Was halten Sie von den momentan angebotenen Programmen, mit deren Hilfe Webangebote auf Barrieren und „Stolpersteine“ abgeklopft werden können?

Hellbuch:
Die teilweise kostenlosen Produkte am Markt (z.B. AIS Accessibility Toolbar oder Cynthia Says) sind gut geeignet, Probleme festzustellen. Aber der Abbau der Barrieren erfordert Kenntnisse über die Arbeitsweise behinderter Menschen. Es gibt oft Diskussionen über die optimale Lösung und meist liegt die Antwort in Abhängigkeit des besonderen Inhalts.
Beispielsweise ist das Fehlen von Tastenkürzeln nicht von vorne herein eine Barriere. Bietet die Seite aber besondere Funktionen, etwa eine Blätterfunktion, die mit der Tastatur schwer zu erreichen ist, dann bietet sich die Verwendung von Shortcuts (Tastaturkürzeln) an.

Schober:
Wie sind die beruflichen Aussichten der WebdesignerInnen und ProgrammiererInnen, die sich der barrierefreien Gestaltung des Netzes widmen? Gibt es Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten?

Hellbusch:
Die Standardkonformität wird sicher eine bedeutsame Rolle spielen. Schon jetzt zeigt sich der Trend dazu auch bei großen Webauftritten. Und wenn die Kleingeräte mitberücksichtigt werden, dann wird der Trend zur Mindestvoraussetzung für einen Webentwickler. Aber die Standardkonformität wird oft mit der Barrierefreiheit gleichgesetzt.

Es muß mehr Richtung Nutzer – und dazu zählen die normalen Behinderten wie auch die behinderten Normalen genauso wie alle anderen – gedacht werden. Es kann nicht zwischen „normal“ und „behindert“ getrennt werden, denn die Menschen mit Behinderungen sind, ohne das Wissen der Anbieter, eine Teilmenge der „Normalen“. Wer sagt, „Behinderte gehören nicht zu unsere Zielgruppe“ hat ganz offensichtlich was falsch eingeschätzt, denn das Web läßt kaum eine Aussage über die Nutzer und deren Einschränkung machen. Zugute kann man diesen Leuten halten, daß sie vermutlich kaum Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen haben und sicher mit Vorurteilen behaftet sind, die auf die Unwissenheit beruhen.

Erfreulicherweise steigt die Zahl an Mailinglisten und Foren zum Thema. Neben der Liste des Fraunhoferinstituts http://access.fit.fraunhofer.de/waideinfo gibt es zunehmend Foren (beispielsweise zu Typo3 oder Flash), die sich mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandersetzen.

Schober:
Sie erwähnen Typo3, ein CMS (Content Management System). Die große Stärke des CMS besteht ja in der Vereinfachung komplexer Vorgänge für die NutzerIn. Beispielsweise erübrigen sich HTML-Kenntnisse. Der Output entspricht leider oftmals nicht dem Anspruch der Barrierefreiheit. Wird es in absehbarer Zeit möglich sein, daß Menschen mittels eines CMS nach kurzer Einschulung barrierefreie Seiten erstellen?

Hellbusch:
Wenn man die technische Seite sieht, dann sicherlich. Aber die Barrierefreiheit umfaßt zahlreiche weiche Kriterien, die mit oder ohne einem CMS gut überlegt werden wollen. (Beispielsweise sinnvollen Alternativ-Texte, die logische Strukturierung der einzelnen Seiten, die schlüssige Reihenfolge von Elementen, einfache und brauchbare Navigation, Verständlichkeit.)

Anhang:

Know Ware Heft: Jan Eric Hellbusch Barrierefreies Webdesign. In der Zwischenzeit liegt das Heft in einer aktualisierten Auflage aus dem Jahre 2005 vor.

Jan Eric Hellbusch, Barrierefreies Webdesign. Praxishandbuch für Webgestaltung und graphische Programmoberflächen, erschienen im dpunkt Verlag.

Eric Hellbusch – Barrierefreies Webdesign.de.

Jan Eric Hellbusch – Beratung und Service.Qualitätsmanagement in der Webgestaltung.

Glossar/Begriffe:

BITV für Alle – eine Artikelserie von einfach für alle.

Die Verordnung zur Schaffung von barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz.

BIK – Gleichstellungsgesetze auf Länderebene.

WAI-Richtlinien in deutsprachiger Übersetzung.

Typo 3 – ein Open Source Content Management System (CMS).

CSS (Cascading Style Sheets), kontrolliert das Aussehen der HTML Seiten. Man kann CSS mit einer Formatvorlage in Word vergleichen. Dateiübergreifend kann eine bestimmte Formatierung zugewiesen werden. Das heißt, mit Hilfe von CSS kann relativ einfach und schnell eine Änderung im Layout eines Website durchgeführt werden.

CMS (Content Management System), ist laut „Content Manager“ “ … ein Softwaresystem für das Administrieren von Webinhalten mit Unterstützung des Erstellungsprozesses basierend auf der Trennung von Inhalten und Struktur“ Durch ein CMS wird es auch Menschen ohne HTML-Kenntnisse möglich, Websites zu pflegen.

Open Source steht für freie und kostenlose Weitergabe, offenen Quellcode, Weiterentwicklungen der ursprünglichen Software dürfen nur unter derselben Lizenz weiter verbreitet werden.

PDA (Personal Digital Assistent), bezeichnet einen zirka geldtaschengroßen Taschencomputer.

PDF (Portable Document Format), ist ein plattformübergreifendes Dateiformat für druckbare Dokumente. Einer der Vorteile besteht darin, daß die PDF-Datei das ursprünglich gewählte Layout immer beibehält. Voraussetzung, um sich ein PDF-Dokument ansehen zu können, ist die Installation des Software Akrobat-Reader.

WYSIWYG (What You See Is What You Get), und heißt übersetzt „Was du siehst bekommst du“. Damit ist ein Editor gemeint, mit dem man ohne Programmierkenntnisse Webseiten erstellen kann. Zu diesem Zweck bietet der Editor Buttons. Durch anklicken derselben wird der Text im Hintergrund in HTML-Code umgewandelt.