Eva Papst im Gespräch mit Georg Schober

Barrierefreiheit für normale Behinderte und behinderte Normale – Teil 3.

Ein Interview zum Thema Barrierefreiheit im Internet mit Eva Papst aus Österreich

Georg Schober:
Frau Papst, Sie gehören sozusagen zu jenem seltenen „Urgestein“ Österreichs, das sich schon seit Jahren mit den „Stolpersteinen im Netz“ und deren Beseitigung oder zumindest Entschärfung auseinandersetzt. Mit Ihren praxisbezogenen Artikeln, beispielsweise auf Ihrer privaten Site WAI-Austria, zeigen Sie immer wieder Lösungsansätze für ein „barrierefreies Netz“ auf und vermitteln „Otto und Ottilie Normalverbraucher“ einen Einblick in den serpentinenreichen und oftmals steinigen Weg, der auf die NutzerInnen in den Weiten des Cyberspace mancherorts noch wartet.

Was hat Sie bewogen, sich mit dem Internet und dem Thema Barrierefreiheit auseinanderzusetzen und welche Fragen rufen derzeit Ihr besonderes berufliches Interesse hervor?

Eva Papst:
Der Startschuß war ein doppelter: Zum einen wurde ich seitens des Österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes gebeten, in einem EU-Projekt zum Thema Accessibility mitzuarbeiten, zum anderen gibt es in vielen Bereichen zum Internet keine wirklich attraktiven Alternativen für mich: z.B. Tageszeitung, aktuelles Telefonbuch und natürlich die Bereiche e-Banking, e-Learning, e-shopping. Man denke bei letzterem nur an die Alternative Supermarkt. Daß es bei der virtuellen Variante noch einiges zu tun gibt, mußte ich mir natürlich auch von der Seele schreiben. Momentan beschäftigt mich der Umstand am meisten, daß Accessibility häufig auf gesetzliche Erfordernisse, Richtlinien und Technik reduziert und der Nutzer in den Hintergrund tritt, oder das Thema als soziales Minderheitenprogramm gehandelt und als lästige Pflicht und purer Kostenfaktor gesehen wird. Dabei sollte längst bekannt sein, daß Barrierefreiheit allen Besuchern und nicht zuletzt dem Anbieter Vorteile bringt, weil es sich um eine spürbare Qualitätsverbesserung handelt.

Schober:
Können Sie Ihr Verständnis von Barrierefreiheit in einem Satz zusammenfassen?

Papst:
Ich werde es versuchen: Acccessibility basiert auf dem Verständnis der Möglichkeiten und Bedürfnisse unterschiedlichster Nutzergruppen, denen bei der Umsetzung des Webauftritts bestmöglich entsprochen wird.

Schober:
Wem nützt das Verschwinden der Stolpersteine im Internet, und für welche Gruppen ist der Abbau von Barrieren besonders wichtig?

Papst:
In meiner Beantwortung möchte ich umgekehrt vorgehen: Das Ausräumen von Barrieren bei Web-Auftritten dient vor allem all jenen, die aufgrund ihrer Behinderung einen erschwerten Zugang haben. Sie nützt aber allen Surfern, denn ohne eine gute grundsätzliche Struktur und Benutzbarkeit einer Seite wäre Barrierefreiheit nur die halbe Miete.

Schober:
Welche technische Ausstattung (Soft- als auch Hardware) ist notwendig, um Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Einschränkung den Zugang ins Internet zu ermöglichen?

Papst:
Das hängt ganz von der Behinderung ab. Bei leichten Seheinschränkungen reicht möglicherweise ein größerer Monitor oder es ist ein Vergrößerungsprogramm erforderlich, auch bekannt unter Lupen-Software. Menschen mit starken Bewegungseinschränkungen benötigen vielleicht ein Spezial-Keyboard oder eine Kopfmaus. Blinde Anwender nutzen einen Screen Reader mit Sprachausgabe und/oder Braillezeile. Aber alle benötigen einen gut zugänglichen Web-Auftritt. Fehlt dieser, nützt auch die beste Ausstattung wenig. Schließlich kann man mit einem Porsche ja auch nicht jedes Gelände befahren.

Schober:
Welche Mehrkosten entstehen für behinderte Menschen durch den Kauf notwendiger Zusatzgeräte, um das Internet überhaupt nutzen zu können? Gibt es in Österreich, wenn erforderlich, Unterstützung für die Betroffenen?

Papst:
Die Kosten richten sich letztlich nicht nur nach der Behinderung, sondern auch nach dem Arbeitsgebiet und dem persönlichen Anspruch an Komfort und Leistungsfähigkeit der Ausstattung – ähnlich wie beim Kauf eines Autos. Sie lassen sich daher in Zahlen schwer ausdrücken und liegen irgendwo zwischen Mindestausstattung und Luxusmodell. Aber natürlich gibt es Richtwerte: Ein Screen Reader kostet ca. 1.500 Euro, eine Braillezeile, je nach Größe, zwischen 3.000 und 10.000 Euro. Was ein großer Monitor kostet, kann in jedem Fachhandel erfragt werden. Die Preise für Hilfsmittel wie Kopfmaus und dergleichen kenne ich jedoch nicht. Für Ausstattungen am Arbeitsplatz kommt der österreichische Staat auf. Wer privat Hard- oder Software benötigt oder haben möchte, muss dies natürlich gut begründen. Eine Garantie für Finanzierung gibt es hier jedoch nicht und es wird im Einzelfall entschieden, ob bzw. wie hoch eine Hilfsmittel-Ausstattung gefördert wird.

Schober:
Welche Mindestvoraussetzungen sollte eine Site erfüllen, die für sich in Anspruch nimmt, barrierefrei, oder vorsichtiger formuliert, barrierearm zu sein? Ist in diesem Zusammenhang mit Mehrkosten bei der Site-Erstellung zu rechnen?

Papst:
Um Fachchinesisch zu reden: Level AA der WAI-Richtlinien sollte erfüllt sein, aber nicht um den Richtlinien Genüge zu tun, sondern um den Besuchern der Seite ein gutes Werkzeug an die Hand zu geben. Da aber diese Antwort „Level AA“ eine der wichtigsten Richtlinien nicht erfüllt, nämlich die Forderung nach verständlicher Sprache, könnte man stark vereinfacht sagen: Wenn eine Seite auch bei ausgeschalteten Grafiken, deaktivierten Webfarben und mit Tastatur gut bedienbar und dabei die aktive Position immer gut sichtbar ist, die Schrift auch im Internet Explorer, dem immer noch meistverwendeten Browser, vergrößert werden kann und dabei das Layout nicht zerfällt, die Darstellung auch am PDA verlustfrei möglich und die Seite auch bei Navigation mit einem Screen Reader les- und navigierbar ist, sind die wichtigsten Kriterien erfüllt. Außerdem kann man bei einer solchen Seite annehmen, dass auch weitere, auf den ersten Blick nicht sichtbare Anforderungen der Barrierefreiheit, wie zum Beispiel Standardkonformität, umgesetzt wurden. Was die Kosten anlangt, so bin ich davon überzeugt, daß, wie bei jedem Umbau, der Abtransport des „Schutts“ aufgrund der dafür erforderlichen Arbeitszeit weit teurer ist als die Umsetzung der Richtlinien für Accessibility. Die meisten Webseiten weisen nämlich enorm viele Verstöße gegen die längst bestehenden Standards auf. Dies wird nur leider nicht bemerkt, weil die Browser in der Regel solche Codierungsfehler „verzeihen“, weniger bekannte Endgeräte sind da aber nicht so tolerant. Kosten rein theoretisch zu beziffern, wäre unseriös. Das ist ähnlich wie beim Hausbau: Wenn man viel Eigenleistung erbringen kann, also Knowhow im eigenen Betrieb hat, spart man nicht nur beim Relaunch, sondern auch bei der Pflege der Seiten und erleichtert zusätzlich auch den künftigen Relaunch. Qualitätsverbesserungen können ja auch in Etappen erfolgen.

Schober:
Wie sehen in Österreich die gesetzlichen Vorschriften aus? Sind diese Bestimmungen ausreichend oder gibt es Ergänzungsbedarf?

Papst:
Der Gesetzgeber hat in Österreich – mit unterschiedlichen Übergangsfristen – sowohl die öffentliche Hand sowie die Unternehmen, die Güter verkaufen, „die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, in die Pflicht genommen. Wesentliche Bestimmungen finden sich im E-Government-Gesetz sowie im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz. Konkret wird die Einhaltung der Barrierefreiheit gemäß Stand der Technik eingefordert. Namentlich erwähnt werden die WAI-Richtlinien. Grundsätzlich sind die Bestimmungen und Verpflichtungen gut formuliert. Es könnte sich aber der Bedarf nach einer erläuternden Verordnung ergeben, um Rechte klarer zu formulieren und Verpflichtungen exakter zu definieren. Die unterschiedlichen Übergangsfristen – Behörden erst ab 1.1.2008, die oben erwähnten Unternehmen ab 1.1.2006 – sind nicht sachlich rechtfertigbar. So ergibt sich die absurde Situation, daß auch jetzt noch NEUE Behördenauftritte online gehen dürfen, die NICHT barrierefrei sind. Geändert werden müssen auch noch die Förderrichtlinien des Bundes, damit barrierefreies Internet als zu unterschreibende Verpflichtung in die Verträge aufgenommen wird (http://www.gleichstellung.at).

Schober:
Was geschieht, um Unternehmen/Institutionen/Behörden für das Thema „Barrierefreiheit“ zu sensibilisieren?

Papst:
Im Jahr 2005 wurde die österreichweite gemeinnützige Plattform „accessible media – Zugang für alle“ gegründet, in der sich ExpertInnen aus den verschiedensten Behindertengruppen, Webdesigner und Vertreter von Bildungsinstitutionen zusammengefunden haben. Vorrangiges Ziel ist die Beratung und Begleitung von Webanbietern öffentlicher Einrichtungen bei einem Relaunch oder der Neugestaltung ihrer Webauftritte. Die zweite wichtige Schiene ist die gezielte Öffentlichkeitsarbeit, um Accessibility bekannter zu machen. Weitere wichtige Vorarbeiten für künftige Qualitätsverbesserungen im Web sind in einschlägigen Bildungsangeboten zum Thema Accessibility zu sehen. So gibt es beispielsweise einen Universitätslehrgang in Linz für barrierefreies Webdesign und in so manchen Fachhochschulen oder Bildungseinrichtungen für Erwachsene wird dieses Fachgebiet bereits integriert. Wenn Barrierefreiheit ein Bestandteil des Gesamtkonzepts wird, wird man künftig nur noch über die Details, nicht jedoch über die grundsätzliche Notwendigkeit diskutieren müssen.

Schober:
Wie viele BetreiberInnen privater Sites konnten für das Thema „Barrierefreiheit“ bisher interessiert werden und gibt es Software, die es Privatpersonen oder kleinen Firmen zu einem leistbaren Betrag ermöglicht, ohne den Besuch eines Kurses bzw. ohne weitreichender Programmierkenntnisse eine barrierefreie Site zu erstellen?

Papst:
Der erste Teil der Frage ist aus meiner Sicht nicht zu beantworten, weil niemand wissen kann, wie vielen Personen Barrierefreiheit tatsächlich ein echtes Anliegen ist. Interesse und Nachfrage sind jedoch steigend. Zu den erforderlichen Werkzeugen möchte ich gerne mit einem Vergleich antworten, auch wenn jeder Vergleich hinken mag: Kein Mensch wird sich allen Ernstes ohne entsprechende Vorkenntnisse oder einschlägige Erfahrungen zutrauen, ein Heizungssystem oder die Elektroleitungen in seinem Eigenheim zu installieren. Mir ist daher unbegreiflich, warum so viele Menschen glauben, daß es möglich ist, eine barrierearme Seite ohne entsprechende Sachkenntnis umzusetzen. Zweifellos gibt es Werkzeuge, teils sogar als Freeware, um die Erzeugung eines möglichst zugänglichen Web-Auftritts entsprechend zu erleichtern, aber ohne Grundkenntnisse wird das nicht funktionieren. Woher soll denn der Anbieter oder Redakteur wissen, was allgemein verständliche Sprache ist oder wo Sprachkennzeichnungen oder die Kennzeichnung von Akronymen erforderlich sind, wenn er sich nicht entsprechend informiert hat? Mit gewissen Einschränkungen ist fast jedes Werkzeug, vom simplen Zeileneditor bis zum ausgewachsenen Framework, in der Lage, bei entsprechender Anpassung und Handhabung barrierefreie Seiten zu erzeugen. Oder andersherum: Das Werkzeug selbst ist zumeist nicht Schuld am Endprodukt, ob es nun mehr oder weniger zugänglich ist.

Schober:
Anhand welcher Kriterien kann der/die NutzerIn, KundIn die Kompetenz von WebdesignerInnen in bezug auf „Barrierefreiheit“ beurteilen? Welche Minimalvoraussetzungen müßte solch ein Kriterienkatalog enthalten?

Papst:
Nun, da gibt es etliche Möglichkeiten, von denen ich nur einige nennen möchte: Erste Möglichkeit: Man läßt sich von der Agentur mindestens zwei Referenzprojekte nennen, bei denen Barrierefreiheit umgesetzt wurde und kontaktiert eine Einrichtung wie „accessible media“ für eine Kurzbeurteilung oder nutzt einen der angebotenen Tests im Web. Wer kein Referenzprojekt vorzuweisen hat, dessen Kompetenz ist natürlich schwerer zu überprüfen. Spätestens beim ersten Entwurf des Templates und einer dazugehörigen Dokumentation ändert sich das aber. Schade, daß so viele Anbieter ihre Seite erst beurteilen lassen, wenn sie schon online ist oder zumindest knapp davor steht. In diesem Stadium ist freilich Korrektur nur noch mit hohem Zeit- und Kostenaufwand möglich. Das ist so ähnlich – um wieder einen Vergleich heranzuziehen – als käme man nach Vollendung des 3. Stockwerks eines Hauses dahinter, daß man eigentlich einen Lift hätte einbauen sollen. Zweite Möglichkeit: Man kann auch vieles selbst prüfen. Hier einige Beispiele: Abschalten der Grafiken im Browser: Ist die Seite noch verständlich und navigierbar? Bedienung der Seite nur mit Tastatur: Ist der Focus immer sichtbar? Wie viele Tasteneingaben sind erforderlich, um zum Hauptteil der Seite zu gelangen? Schriftvergrößerung: Läßt sich die Schrift auch im Internet Explorer vergrößern? Sind alle Bereiche dann noch überlagerungsfrei lesbar? Ab wann tauchen horizontale Scrollbalken auf? Ich könnte hier natürlich mit vielen der WAI-Kriterien fortsetzen, aber das würde den Rahmen sicher sprengen. Auch gibt es eine ganze Reihe von Prüfwerkzeugen, deren Ergebnisse aber natürlich nicht rein automatisch bewertet werden können. Ein Beispiel hiefür wäre die Korrektheit einer Seite zum Prüfschritt der Beschriftung von Grafiken, weil alle Grafiken wohl einen Alternativtext haben, jedoch die sinnlose Beschriftung „Bild“ gewählt wurde. Diese stellt wohl die Richtlinie zufrieden, hilft jedoch den Besuchern der Seite nicht.

Schober:
Wie sind die beruflichen Aussichten der WebdesignerInnen und ProgrammiererInnen, die sich der barrierefreien Gestaltung des Netzes widmen? Gibt es Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten?

Papst:
Die beruflichen Aussichten der Experten auf diesem Gebiet lassen ein wenig zu wünschen übrig, wären aber deutlich besser, wenn man sich nur ernsthaft bemühen würde, diese tatsächlich mit der Umsetzung zu beauftragen. Meist werden aber bestehende Geschäftsverbindungen genutzt – und zwar auf bloßen Verdacht oder das Versprechen hin, daß auch Barrierefreiheit umgesetzt werden kann. De facto sind es aber oft, wenn auch nicht immer, gerade die kleinen Agenturen ohne Bindung an ein fixes CMS, die über das entsprechende Knowhow verfügen, und zwar weil sie dieselbe Qualität liefern können, ob nun ein CMS verwendet wird oder sie ihre Seiten von Hand codieren. Letzteres ist sicher unökonomisch, dokumentiert aber klar das Wissen um die Details. Netzwerke gibt es zweifellos. In Österreich ist dies beispielsweise die schon erwähnte Plattform „accessible media – Zugang für alle“. Man darf auch nicht die Mailing-Listen zu diesem Thema vergessen, wo in den letzten Jahren viel Wissen um Accessibility ausgetauscht und weiterentwickelt wurde. Bei all den Bemühungen geht es meiner Ansicht nach letztlich beim Thema Accessibility nicht um ein soziales Minderheitenprogramm, sondern um einen qualitativen Zugewinn für alle Nutzer – und nicht zuletzt auch für die Anbieter, die durch die klare Trennung von Inhalt und Layout künftig mit relativ wenig Aufwand einen Relaunch ihres Auftritts umsetzen könnten – aber das wissen freilich nur jene, die sich nicht nur Experten nennen, sondern auch welche sind.