© Petra Öllinger
Erschienen in „Eurocity“, Dezember 2002/Jänner 2003.
Naturkunde auf Schritt und Tritt sensibilisiert im Umgang mit Fauna und Flora. Und ein bisschen Herzklopfen ist auch dabei.
Wir hätten einen Leihwagen mieten können. Dann wären wir die Strecke zum Beispiel von Funchal nach Ribeira Brava in dreißig Minuten gefahren – auf der Autobahn. Jedoch wir bevorzugen die rot-weißen Linienbusse der Rodoeste-Gesellschaft oder wahlweise die rot-grau-weißen Gefährte von Empresa de Automóveis do Caniço oder eine andere der insgesamt sieben Busfirmen. Und begeben uns vertrauensvoll in die Hände des jeweiligen Fahrers, der den Bus routiniert durch enge, kurvige Straßen lenkt und jedem Gegenverkehr Respekt einflößt. Und bedauern Touristen in Mietautos. Die schalten, bremsen, schalten, fluchen und fürchten sich vielleicht sogar ein bisschen – beispielsweise vor großen Linienbussen, die ihnen entgegenkommen… Wir schauen, genießen, schauen, plaudern und freuen uns über den wohlfeilen Fahrpreis. Ab ca. 1,30 Euro kommt man auf Madeira öffentlich in die verstecktesten Zipfel.
Ein bisschen Herzklopfen haben wir aber auch. Schuld daran ist Maria. Bei ihrem Imbissstand auf der Galerie in Funchals Markthalle haben wir heute morgen unser erklärtes Lebenselixier geordert: Um café simples! Stark und dunkel – dieser Kaffee erweckt sogar uns zum Leben. Um acht Uhr früh. Eine gute Zeit, um Interessantes in punkto Meeresbiologie zu erfahren. Neben Unmengen von Thunfisch bestaunen wir ein Wesen aus der Tiefsee, das noch nie ein Mensch lebend gesehen hat: riesige Augen, scharfe Zähne, schwarz, aalförmig – der Degenfisch oder Espada. Mit Leinen wird er aus einer Tiefe von bis zu 1.600 Metern hochgezogen. Zwei Meter weiter häufen sich Lapas, Napfschnecken. Die Bestände dieser Muscheltiere schwinden zunehmend. Zwar gibt es Bestimmungen, die verhindern sollen, dass Jungtiere gesammelt werden. Private Muschel“pflücker“halten sich selten daran. An den industriellen Fang denken wir lieber nicht, fragen uns stattdessen, wie lange diese Köstlichkeit noch auf Speisekarten zu finden sein wird.
Im Bus schlängeln wir uns zum Ausgangspunkt der zahlreichen Levada-Wanderwege. Die künstlich angelegten Kanäle haben mehrere Funktionen. Sie dienen der Bewässerung in der Landwirtschaft, leiten Wasser zur Stromgewinnung und bilden ein großartiges Wegenetz. Verirrungs-Risiko auf Wanderungen: gegen null.
Terrassenfelder schmiegen sich in malerischen, satten Grün- und Brauntönen an steile Hänge. Weniger malerisch hingegen ist die Bewirtschaftung dieser kleinen Flecken. Durch die Steilheit sind sie nicht maschinengerecht, die meisten Arbeiten müssen händisch verrichtet werden. Der alte Mann, den wir beim Abschneiden von ausgewachsenen Kohlköpfen treffen, erzählt uns, sein Sohn arbeite in der Stadt in einer Computerfirma, da bringt die Arbeit wenigstens etwas. Die Plackerei auf dem Land lohnt sich ja nicht kaum noch. Viele Felder sind bereits aufgegeben, Terrassenmauern verfallen, nicht-standortgemäße Pflanzen wuchern – Faktoren, die Bodenerosionen vorantreiben.
An Urwälder fühlen wir uns erinnert, als wir unsere Wanderung fortsetzen. Was wir sonst nur getrocknet, in Säckchen verpackt aus dem Supermarkt kennen, wächst hier vor unserer Nase: üppige Lorbeerhaine. Den Namen Insel des Frühlings trägt Madeira zu Recht. Pflanzen, die in unseren Breiten oft einen besonders einfühlsamen grünen Daumen benötigen, um zufrieden gestellt zu werden, gedeihen auf Madeira – man ist versucht zu sagen: wie Unkraut. Allerdings sind jene Arten, für die Madeira berühmt ist, großteils von Menschen eingeschleppt. Den ursprünglich etwa 800 einheimischen stehen über 500 fremde Pflanzen gegenüber. Die bekanntesten Beispiele sind Strelitzia, Hortensie oder Afrikanische Liebesblume. Sie neigen zwar nicht zum unkontrollierbaren Wuchern, trotzdem: die sogenannte Floraverfälschung stellt ein nicht zu unterschätzendes ökologisches Problem dar. Die Eingeschleppten machen früher oder später den Einheimischen den Lebensraum streitig, dasselbe gilt übrigens auch für die Tierwelt. Zu einer regelrechten Plage hat sich die Bastard-Passionsblume entwickelt, die ganze Lorbeerwaldabschnitte überwuchert und mit ihren Ranken die Bäume erstickt. Einem anderen Übeltäter, hinter dessen nett klingenden Namen wir eigentlich keine Gefahr vermuten würden, rücken die Madeirenser selbst mit Luftabschnüren zu Leibe: der Girlandenblume. Jetzt wissen wir auch, was es mit den schwarzen, mit Steinen beschwerten Plastikfolien auf sich hat, die wir immer wieder auf unserer Pirsch entdecken. Nein, keine Müllsäcke! Die finden wir zwar hin und wieder zwischen Eukalyptusbäumen (auch eingeschleppt) und manchmal überholt uns eine prall gefüllte Kunststofftüte auf ihrem letzten Weg in einer Levada. Mit den ominösen Plastikplanen werden die Wurzelstöcke zugedeckt und zum Absterben gebracht. Apropos absterben: wir hätten gern etwas Belebendes. Vielleicht ein Abstecher zu Maria und einen café com leite? Der ist nicht sooo stark. Und besser fürs Herz.