© Petra Öllinger
erschienen in evolver, Jänner 2002
Amy, Liz, Brian und Kevin sind vorbildliche Kinder – sie versorgen den Haushalt, achten auf gesunde Ernährung, sind gut in der Schule und studieren danach auch brav, und zwei von ihnen beginnen sogar eine künstlerische Karriere. Beneidenswerte Eltern – die es allerdings nicht mehr gibt… Nach häufigen Umzügen wird die Familie McNair seßhaft in einem alten Haus in Oregon. Der perfekte Wohnsitz: jedes Familienmitglied hat ein eigenes Zimmer, die vier Geschwister Amy, Liz, Brian und Kevin können alle an derselben Schule ihre Ausbildung fortsetzen und müssen nicht ständig neue Freunde suchen. Ihren Außenseiter-Status werden die vier aber auch nicht in der neuen Wohngegend los. Trotzdem sind sie gegenüber den anderen Kindern im Vorteil: Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel.
Bald nach dem Einzug kommt der Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben, kurz darauf stirbt die Mutter. Der Vater wird offiziell beerdigt. Doch die Angst, daß sie nicht beisammen bleiben können und ihnen dasselbe Schicksal bei grausamen Pflegeeltern droht wie ihrer Mutter, lassen die Kinder einen Entschluß fassen: Der Tod der Mutter muß verschwiegen werden. Sie wird im Garten begraben. Da die Kinder die Abwesenheit der Mutter nicht ständig mit dem Besuch bei einer pflegebedürftigen Verwandten erklären können, planen sie deren offizielles Verschwinden: Sie geben eine Vermißtenanzeige auf.
Den vier Kindern gelingt es, ihr Leben wie bisher weiterzuführen und die Menschen in ihrer Umgebung zu täuschen. Nach und nach scheinen sie den Tod ihrer Mutter überwunden zu haben, bis auf Brian, den Jüngsten. Brian hört Stimmen und hält Unterredungen mit seiner Mutter im Garten, bevor er eine Entscheidung trifft. Acht Jahre gelingen den Geschwistern die Vertuschungen. Eines Tages jedoch erleidet Brian einen schweren Anfall und plötzlich ist nicht mehr klar, ob der tödliche Sturz der Mutter von der Leiter damals ein Unfall oder Mord war. Und der schön gepflegte Garten entpuppt sich für Nicht-Familien-Mitglieder als etwas ganz anderes… Besonders interessant sind die perfekt durchdachten Täuschungsmanöver der vier Geschwister. Alle Handlungen sind darauf ausgerichtet, nirgends aufzufallen. Sie führen relativ sachliche Diskurse, wie sie weiterhin vorgehen müssen. So legen sie Wert auf gesundes Essen, um nicht krank zu werden, sie halten sich gegenseitig zum ordentlichen Zähneputzen an, damit ihnen der Zahnarzt erspart bleibt, und sie lernen, die Unterschrift der Mutter perfekt zu kopieren, um Schecks einlösen zu können. Amy verkleidet sich als Mutter, um mit dem ältesten Bruder Kevin die Fahrprüfung zu machen. Jedoch taucht hin und wieder die Frage auf, ob es Kindern bzw. Jugendlichen tatsächlich gelingt, solche perfekten Strategien zu entwickeln. Da mutet es rührend und komisch zugleich an, wenn sie die Taktiken von Inspektor Columbo im Fernsehen genau studieren, um adäquat mit Kriminalbeamten umgehen zu können.
Die Spannung und die Handlung werden ab dem letzten Drittel des Buches schwächer: Liz gibt sich plötzlich einige Seitenlängen der Promiskuität hin. Das fällt auf, weil dieses Verhalten nichts über Liz‘ Person aussagt und vollkommen aus dem Inhalt gelöst erscheint. Sie und der Rechtsanwalt Radix starten eine Befreiungsaktion für Brian aus der psychiatrischen Klinik. Da kommen einen beim Lesen doch Zweifel: Warum bleibt diese Tat ohne rechtliche Folgen? Geht es tatsächlich so rasch, daß ein psychisch kranker Mensch von seiner Medikamenten-Abhängigkeit innerhalb kurzer Zeit loskommt und dann ein scheinbar normales Leben führt? Schließlich taucht mit der Haushaltshilfe Mrs. Inglewood noch ein helfender Engel auf. Anstelle des Happy Ends zwischen Liz und dem Rechtsanwalt Radix wäre es interessanter gewesen, ob und welche Strafe es auf das Verscharren der eigenen Mutter im Garten gibt. Leider bleibt Heile, heile Segen die Antwort darauf schuldig.
Kate Wilhelm schildert die Ereignisse aus der Sicht von Liz. Auf diese Weise erhält der Thriller hohe sprachliche Dichte und unmittelbare Greifbarkeit. Zusätzlich wird eine moralisierende Haltung vermieden, der erhobene Zeigefinger bleibt einem erspart. Es ist ein Leichtes, Mitgefühl und Verständnis für die Kinder aufzubringen. Besonders in diesem Punkt stellt Kate Wilhelms Thriller eine wohltuende Abwechslung in diesem Genre dar, wo einem nur allzu oft eine leicht verdauliche Schwarzweiß-Kost vorgesetzt wird.
Kate Wilhelm – Heile, heile Segen. List Taschenbücher/ Ullstein Taschenbuchverlag, 2002